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Der glückliche Tantalos

Simon Krappmann – Bewusstsein – Kultur – Gesellschaft

Der glückliche Tantalos

Vom Umgang mit Ohnmacht

Wer glücklich leben will, braucht Zuversicht. Wer zuversichtlich sein will, braucht Handlungsoptionen. Doch was, wenn Kriege, Naturkatastrophen und das Wissen um die Vergänglichkeit allen Seins ein Gefühl völliger Ohnmacht hinterlassen? Besteht trotz allem die Chance, ein erfülltes Leben zu führen?

Zuversicht unterscheidet sich von Optimismus. Der optimistische Mensch erwartet das Beste. Mehr noch: Er erwartet, dass das Beste in Zukunft auch eintrifft. Seine Lebensformel „Alles wird gut“ mag beruhigend klingen, klammert jedoch aus, dass es keine Garantie für ein Happy End gibt. Optimismus verleitet zum Ausblenden leidvoller Phänomene. Ihm fehlt der integrierende Sinn für das Ganze, das Licht und den Schatten.

Zuversicht unterscheidet sich auch von Hoffnung. Der hoffende Mensch verlagert die Möglichkeit eines Gut-Werdens vom Subjekt weg, ins Andere hinein. Er beschränkt sich auf den Wunsch nach einer von außen herrührenden Erlösung. Bleibt diese aus, dann stirbt die Hoffnung, und wenn die Hoffnung sprichwörtlich zuletzt stirbt, dann bleibt nichts mehr.

Den zuversichtlichen Menschen kennzeichnet ein gefestigtes Grundvertrauen. Er räumt auch Schicksalsschläge ein, ohne sich das Aufschauen (althochdeutsch „zuofirsiht“) nehmen zu lassen. Als Formel genügt ihm ein „Alles wird“. Die darin enthaltene Veränderung ist die existenzielle Basis, auf der er sein Wirken immer wieder neu bewertet. Allerdings kann auf diesem Weg selbst die zuversichtlichste Person in Lebenslagen geraten, in denen ihre Handlungsoptionen gegen Null gehen. Endet dort die Zuversicht?

Die Kränkung des Menschen

Die Menschheitsgeschichte ist von Fortschritt und Erfolg, aber auch von Kränkung und Niederlage geprägt. Gleiches gilt für die Geschichte jeder einzelnen Person. Der starke Mensch muss ertragen, dass er schwächer wird und vergeht. Der mitfühlende Mensch muss erleben, wie Geliebte sterben und viele Menschen Leid erfahren, sei es durch Kriege, Unfälle, Naturkatastrophen oder andere Gewalten. Der Philanthrop muss erkennen, dass der Mensch und sein Planet mitnichten das Zentrum des Universums sind, sondern in dessen Unendlichkeit geradezu verschwinden. Sogar der unerschütterlich neugierige und lebensfreudige Mensch muss einsehen: Seine kurze Lebensspanne wird niemals ausreichen, um die Welt als Ganzes zu erfahren – Lebenszeit und Weltzeit sind unvereinbar (mehr dazu in „Lebenszeit und Weltzeit“ von Hans Blumenberg, 1986).

Todes Schwester

Diese Schieflage von Bedürfnis und Erfüllbarkeit kann zu einem tiefen Ohnmachtsempfinden führen. Spätestens im Angesicht des Todes ist jedes Bemühen ums (Über-)Leben zum Scheitern verurteilt. Das Bewusstsein um unsere Vergänglichkeit beeinflusst auch unweigerlich die Art, wie wir leben, selbst dann, wenn wir diese Tatsache gekonnt verdrängen (mehr dazu in „Der Wurm in unserem Herzen“ von Sheldon Solomon, 2016). Gilt der Tod als Schlafes Bruder, dann möchte ich die Ohnmacht als Todes Schwester bezeichnen.

Eine allzu menschliche Reaktionen darauf ist Resignation. Wenn sich nichts mehr bewegen und erreichen lässt, dann setzt die Schwester ihr lähmendes Gift frei. Manche Menschen stürzen folglich in eine Abwärtsspirale aus Regression und Depression. Manche konsumieren per „Doomscrolling“ zwanghaft jede neue Schreckensnachricht aus der Welt. Andere erleiden Angstzustände, wieder andere werden aggressiv und kompensieren ihre Ohnmacht mit übersteigerten Machtdemonstrationen. Nichts davon scheint eine konstruktive Antwort auf die gegebene Handlungsunfähigkeit zu sein. Doch gibt es das überhaupt: einen gesunden Umgang mit Ohnmacht?

Mit der Ohnmacht leben

Eine nahe liegende Alternative wäre, aktiv zu werden, um der Ohnmacht etwas entgegenzusetzen. So könnte man sich beispielsweise für den Frieden und Klimaschutz engagieren, anstatt sich von negativen News lähmen zu lassen. Dennoch bestehen weiterhin Grenzen unserer Einflussnahme, und die können je nach individueller Prägung zu einer enormen Belastung werden. In schwierigen Fällen hilft die Psychologie weiter, die sich eingehend mit Ohnmachtsgefühlen und dahinter stehenden Bedürfnissen befasst. Verschiedene therapeutische Verfahren unterstützen dabei, Ohnmacht besser zu verstehen, zu reduzieren oder zumindest ertragbar ins Leben zu integrieren.

Darüber hinaus spielen die Anerkennung und Überwindung von Machtlosigkeit in Religionen eine zentrale Rolle. So hat das Christentum mit dem Kruzifix ein Ohnmachtssymbol hervorgebracht: Der Sohn Gottes hängt machtlos am Kreuz, leidend, sterbend, sich aufopfernd. Die spirituelle Hinwendung zu diesem Symbol ist – wie das Gebet an sich – eine Handlungsoption, die selbst in schlimmster Lage erhalten bleibt. Manchmal hört man auch Kritik an der daraus resultierenden Neigung zur Passivität. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass Jesus vor seiner Kreuzigung eine Lehre des aktiven Handelns und Befreiens verbreitet hat, unter anderem mit dem Ausruf „Seht, ich habe euch Macht gegeben“ (Die Bibel, Lukas 10,19). Wie weit diese gottgegebene Macht wiederum ins Irdisch-Menschliche hineinreicht, ist eine Frage des Glaubens. Wer glaubt, hat in jedem Fall gute Chancen, den Erschütterungen des Lebens gefestigter zu begegnen.

Der Mythos des Tantalos

Nun frage ich mich, ob es auch losgelöst vom Glaubensbekenntnis eine philosophische Basis geben kann, auf der sich ein Mindestmaß an Zuversicht aufrechterhalten lässt. Dazu möchte ich eine Idee aus der griechischen Mythologie ableiten. Sie ähnelt der Existenzphilosophie von Albert Camus, der den Sisyphos-Mythos neu belebte und so die ausweglose Lage des Menschen beschrieb: Sisyphos ist dazu verdammt, auf ewig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, wobei der Fels kurz vor dem Gipfel immer wieder ins Tal zurückrollt. Camus sah in dieser repetitiv-sinnlosen Tätigkeit ein Abbild der Absurdität, mit welcher der Mensch aufgrund seiner bloßen Existenz konfrontiert ist. Für den Philosophen bestand dennoch kein Grund zum Verzweifeln. Stattdessen schlug er ein selbstbewusstes und rebellisches Weitermachen entgegen aller Sinnlosigkeit vor (mehr dazu in „Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus, 1942). In Bezug auf die Ohnmacht könnte sein Ratschlag lauten: Kleiner Mensch, bleib tätig, egal, wie bedeutungslos dein Handeln zu sein scheint. Dadurch, dass du überhaupt agierst, setzt du dem Absurden eine sinnstiftende Haltung entgegen. Also: Roll weiter, jetzt erst recht!

Um das Ohnmachtsproblem auf die Spitze zu treiben, möchte ich einen anderen Mythos ins Spiel bringen: die Höllenqualen des einst mächtigen Königs Tantalos. Er wurde von den Göttern zu den sprichwörtlichen „Tantalusqualen“ verurteilt. Dazu schildert Homer in der Odyssee (Übersetzung von Johann Heinrich Voß, 1781): „Auch den Tantalos sah ich, mit schweren Qualen belastet. Mitten im Teiche stand er, das Kinn von der Welle bespület, lechzte hinab vor Durst, und konnte zum Trinken nicht kommen. Denn so oft sich der Greis hinbückte, die Zunge zu kühlen, schwand das versiegende Wasser hinweg, und rings um die Füße zeigte sich schwarzer Sand, getrocknet vom feindlichen Dämon. Fruchtbare Bäume neigten um seine Scheitel die Zweige, voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven, oder voll süßer Feigen und rötlichgesprenkelter Äpfel. Aber sobald sich der Greis aufreckte, der Früchte zu pflücken, wirbelte plötzlich der Sturm sie empor zu den schattigen Wolken.“

Als Krönung seiner Ohnmacht schwebt über Tantalos ein gigantischer Gesteinsbrocken, der droht, jeden Moment hinabzustürzen und den Gepeinigten zu erschlagen. In einer derart ausweglosen Situation besteht kein Raum mehr für Hoffnung, geschweige denn für Optimismus. Und Zuversicht? Tantalos kann ja nicht einmal rebellisch trotzend eine repetitive Tätigkeit ausführen. Hilflos muss er hinnehmen, wie sein Verlangen in ironischer Wechselwirkung mit der Umwelt unbefriedigt bleibt. Doch genau in dieser dialektischen Beziehung von Subjekt und Objekt sehe ich auch eine Chance für die Zuversicht: Tantalos wird dem Hades zwar nicht entrinnen, aber er kann seine Umwelt in Bezug auf sich selbst und auf die beschriebene Ironie transformieren. So gesehen hat sein Handeln noch immer eine beachtliche Konsequenz: Er muss nur den Kopf senken, um den Wasserspiegel herabzudrücken. Er muss nur die Arme heben, um die Zweige mit den Früchten zurückzudrängen. Umgekehrt genügt es, einladend mit der Hand zu sich zu winken, um die Früchte wieder heranzuholen, und den Kopf zu heben, um das Wasser erneut ansteigen zu lassen – zwei Gesten voller Zuversichtssymbolik.

Wären wir in der Lage, Tantalos beim Bewegen der ihn umgebenden Phänomene zu beobachten, würden wir ihn für einen mächtigen Magier halten. Wir könnten sein Handeln auf eine Ebene mit dem biblischen Aufteilen des Roten Meeres oder Jesu Gang auf dem See Genezareth stellen. Zwar wüssten wir, dass Tantalos ein Getriebener seiner Bedürfnisse ist, doch er würde uns zweifelsohne begeistern. Vielleicht fühlten wir uns daran erinnert, wie wir ebenfalls von Bedürfnissen geleitet sind, hungrig nach Nahrung und Status, Liebe und Sinn – manchmal unersättlich. Den hohen Stellenwert dieser inneren Treiber zu erkennen, hat auch etwas Befreiendes.

Unerreichbar verbunden

Was heißt das für die Ohnmacht und das Leben? Nehmen wir folgendes Beispiel: Ein geliebter Mensch stirbt. Von einer Sekunde auf die andere wird sein Wesen für uns so unerreichbar wie das Wasser und die Früchte für Tantalos. Unser Herz pocht darauf, die verlorene Person zu berühren und zu den Lebenden zurückzuholen – vergebens. Das ist unsere Hölle. Wir können aber mit der Zeit lernen, uns dem Verstorbenen über liebevolle Gedanken, Gefühle und Rituale ein Stück weit zu nähern, und wir können ihn immer wieder ein wenig loslassen, um das wechselseitige Wirkungsprinzip aufrechtzuerhalten. Dann erleben wir, wie sich der Mensch über Erinnerungen und Assoziationen von selbst wieder annähert. Auf diese Weise bleiben wir in einer innigen Beziehung, die weiterhin voller sinnstiftender Handlungsoptionen steckt.

Vielleicht lernt Tantalos noch, wie er zum Beobachter seiner Bedürfnisse werden und sein wundersames Wirken bis ins kleinste Detail steuern kann. Dann wird er bald befähigt sein, jede einzelne Frucht mit den Händen hin und her schwingen zu lassen. Schrittweise wird er sich zum Dirigenten seines Schicksals erheben und im dynamischen Wechselspiel mit der Welt handlungsfähig bleiben. Anders als Camus’ Sisyphos findet er seinen Sinn nicht in der Revolte gegen das Absurde, sondern in dessen Transformation. Er verzweifelt nicht länger am Weichen des Wassers und der Früchte, sondern lässt sie in stiller Zuversicht zu sich zurückkommen. Solange noch Wasser und Früchte da sind, solange ist auch Tantalos. Er verwandelt den qualvollen Gegensatz in einen kreativen Dualismus und nutzt kleinste Bewegungsoptionen, um daraus einen Rhythmus entstehen zu lassen. Mit viel Übung spielt er den Göttern eine Hymne vor, die sagt: Hier ist mein Sinn! Letztlich wird er so lange weiter Lieder kreieren, bis der Fels auf ihn stürzt. Spätestens bei dieser Todessymbolik müssen wir erkennen, dass wir alle das Schicksal des Tantalos teilen.

Aufschauen und gestalten

Ist diese Neudeutung nun eine frohe Botschaft? Es kommt darauf an: Im Grenzbereich der Zuversicht wird es für Tantalos keine Erlösung geben. Unabhängig davon, welche Umstände zu seiner Höllenstrafe geführt haben, muss er diese Existenz akzeptieren. Aber es kann ihm gelingen, eine aufschauende Haltung zu entwickeln und innerhalb der auferlegten Dialektik neue Handlungsspielräume zu erschließen. Dann ist er nicht mehr das Opfer innerer oder äußerer Zwänge, sondern eine sich entfaltende Dualität von Subjekt und Objekt. Wenn er lernt, die darin enthaltenen Freiräume kunstvoll auszugestalten, lässt sich in Anlehnung an Camus sogar resümieren: Wir müssen uns Tantalos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Simon Krappmann, Redakteur, Autor

simonkrappmann.de


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Eine Antwort zu „Der glückliche Tantalos”.

  1. Im Drama der Seele
    hat der Mensch
    eine Nebenrolle zu spielen

    Die Seele redet im Traum
    in ihrer paradoxen Sprache
    durch eine ähnliche Bilderfolge

    Dem Trauminhalt
    obliegt es einem jedem
    zu sich und der Welt
    zu neuer Einsicht zu kommen

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