ZeitenGeist

Magazin für Kultur, Gesellschaft und Bewusstsein


Wer Augen hat, der sieht alles in allem

Bernhard Horwatitsch

– Gesellschaft – Kultur – Bewusstsein

Wer Augen hat, der sieht alles in allem

Error multiplex, veritas una

Eine der letzten großen Wendezeiten ist ein Projekt, das ab dem 17. Jahrhundert begann,  um die meist sehr schlecht beleuchteten Kirchenräume und dunklen Priester-Hirne auszuleuchten und nach altem metaphysischem Staub zu fahnden. Heute – über 300 Jahre später – hat man den Eindruck, dass dieses Licht wieder gedimmt wird. Vielleicht liegt es daran, dass wir das Gefühl haben, unter einer Art Lichtverschmutzung zu leiden. Wenn es nur noch hell ist, tappen wir genauso im Dunklen.
Wenn man die Lampe aufdreht, sieht man den Schmutz. Wäre es nicht besser und für alle angenehmer, bliebe es dunkel? Dann müsste man es auch nicht unter den Teppich kehren. Was haben wir nicht alles schon ausgeleuchtet und leuchten immer noch aus! Und doch haben wir es noch nicht geschafft, ein Licht aufzudrehen, das frei von Schatten bleibt. Selbst der Sonne gelingt dies nicht. Schon hier tritt eine erste Frage auf: Wie sehen wir Licht? „Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äusseren entgegentrete“, vermutet Johann Wolfgang von Goethe in seinem Entwurf einer Farbenlehre. Das Auge wird so zum Resultat des Lichtes. Tatsächlich gibt es bereits seit 500 Millionen Jahren Augen. Ganz am Anfang gab es einfach lichtempfindliche Zellen, die hell und dunkel unterscheiden konnten. Im Februar 2007 wurde ein Kolosskalmar, ein seltener Riesentintenfisch aus dem Meer gezogen. Seine Augen hatten einen Durchmesser von 28cm, so groß wie ein Fußball. Seine Augenlinsen waren so groß wie Orangen. Er lebt in 1000 Meter Tiefe im Meer. Aufgrund des geringen Lichtes dort, hilft ihm sein großes Auge mit einem Pupillendurchmesser von 9cm, dass möglichst viel von dem wenigen Licht verarbeitet werden kann und er trotzdem Beutetiere aufspüren kann. Es gibt Spinnenarten, die können sich sogar bei geschlossener Wolkendecke am Sonnenstand orientieren, indem sie sogenanntes polarisiertes Licht (hat nur eine Schwingungsebene) wahrnehmen. Manche Tiere (Insekten, Fische, Vögel) können ultraviolettes Licht wahrnehmen, manche Schmetterlinge orientieren sich an Infrarot. Das menschliche Auge hat also ganz rational einige Schatten zu akzeptieren.
Das beginnt schon mit der Augenmotorik. Vier Hirnnerven steuern die Augenbewegungen. In einem komplexen Zusammenspiel muss das Auge  Blickzielbewegungen durchführen, so genannte Mikrosakkaden. Das geschieht ca. drei Mal in der Sekunde und hilft dabei, die unterschiedlichen Lichtverhältnisse gleichmäßig auf die Rezeptoren zu verteilen. Wäre der Kopf fixiert und die Augenmuskeln gelähmt, käme es zur Erblindung. Doch zwischen den Blickzielbewegungen bleibt noch ein Rest von 30 Millisekunden übrig. In dieser Zeit sind wir alle blind. Bei ca. 100.000 Sakkaden pro Tag kommen wir immerhin auf eine knappe Stunde in der wir nichts sehen. Was will Gott, dass wir nicht sehen? Doch das ist noch nicht alles. Alle vier Sekunden müssen wir die Augen schließen, um sie zu befeuchten. Während eines Lidschlages sind wir 300 Millisekunden lang blind. Es kommen also noch einmal ein paar Minuten dazu. Doch wir bemerken es nicht. Wir haben nicht den Eindruck vorübergehender Erblindung. Unsere fehlende Wahrnehmung wird durch unser Wahrnehmungsgedächtnis im präfrontalen Cortex kompensiert. Somit erleben wir einen Teil des Lichtes, das unser Auge formte als Erinnerung. Es war der Aufklärer Denis Diderot, der im vorrevolutionären Frankreich den porphyrianischen Baum neu definierte und das Gedächtnis gleichrangig neben Vernunft und Einbildung stellte. Nun ist die Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Einbildung nicht immer einfach. So sehen manche Menschen Dinge, die andere nicht sehen. Schon bei Homer gab es die Epiphanie, das hereinbrechende und wieder verschwindende Sichtbarwerden einer Gottheit. Göttliche Erscheinungen wurden vor allem in der Bibel narrativ ausgeschlachtet. Als John Locke noch lebte, und mit seiner Kerze die Aufklärung anzündete, gab es in England viele Quäker, die sich selbst als Kinder des Lichts sahen. Visionen begleiteten ihren Begründer George Fox und erweckten seine Spiritualität. Das Licht der Aufklärung machte aus diesen Visionen Trugbilder, Wahnbilder und Einbildung. Aber zwischen Wahn, Vorstellungskraft und Phantasie zu unterscheiden, bedarf es der Vernunft. Diese Vernunft würde man heute in den beiden Hemisphären unseres Großhirns ansiedeln, im Neocortex. Gut 14 Milliarden Nervenzellen verteilen sich auf diesen Neocortex und jede von ihnen ist synaptisch 1000 bis 10.000-mal mit anderen Nervenzellen verbunden.  Während Sie nun diesen Text lesen, rasen Millionen von Informationseinheiten von Ihrer Netzhaut zum Neocortex. Eine Million Bit pro Sekunde werden von der Netzhaut ans Gehirn vermittelt. Das entspricht einer nicht mehr besonders befriedigenden Standard-DSL-Leitung aus dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrtausends. Die Technik übertrifft längst das Auge. Und ein Computer muss nicht mal blinzeln. Was aber macht die Vernunft aus den Millionen Bits? Im Gegensatz zum Computer entscheiden wir selbst, was wir sehen wollen. Der Computer muss alles fressen. Der Mensch kann sich von göttlichen Visionen befreien und entwickelte Medikamente dagegen. Andererseits kann der Mensch auch weiter seine Visionen haben. Im Gegensatz zu einem Computer, der niemals Visionen haben wird. Wenn wir keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen oder für uns selbst, bleibt es jedem überlassen, seine Visionen zu haben. Auch das ist ein Resultat der Aufklärung. Die Reduktion des Menschen auf Naturgesetze hat immer auch auf die Konstruktion von Natur hingewiesen. Rousseau war sich bewusst, dass der Mensch nie mehr so natürlich werden kann, wie er angetreten ist. Er setzte damit einen Maßstab. Es war eine Idee. Nicht die Natur ist die Konstruktion, sondern das Bild, das der Mensch von der Natur hat, das er sich mit seinem Gedächtnis, seiner Vernunft und seiner Einbildungskraft selbst gegeben hat, wieder nimmt und neu gibt. Der Maßstab der Enzyklopädie bei Diderot und d’Alambert (die wichtigsten Autoren der 70.000 Artikel) war die Vernunft.  „Wenn man mir sagt, es gebe Dinge, die über unsere Vernunft hinausgehen, so kann mich das nicht veranlassen, Unsinn zu glauben. Zweifellos gibt es Dinge, die über unsere Vernunft gehen; aber ich verwerfe kühn alles, was ihr widerstreitet, und alles, was gegen sie verstößt.“  Der Vernunft-Begriff bei Diderot wurde von John Locke geprägt und dessen Vernunftbegriff wieder vom Verstand und den Sinneskräften. Womit sich der Kreis schließt.


Wenn wir ein Wort hören, so wird im Neocortex ein Zellhaufen im Bereich des Schläfenlappens aktiviert. Zunächst nimmt unser äußeres Ohr die Schallwellen auf, diese treffen dann auf das Trommelfell, werden über das Innenohr auf den Hammer weitergeleitet, der auf einen Amboss schlägt und über den Steigbügel wird dieser Schall in die Hörschnecke gebracht. Feinste Flimmerhärchen transportieren diesen Schall weiter zum Hörnerv, der nun zum Thalamus führt. Dort wird entschieden, was wichtig ist und was unwichtig ist, danach oder fast gleichzeitig wird das Gehörte im Schläfenlappen mit bereits Gehörtem verglichen und erneut nahezu gleichzeitig zum Frontalhirn geleitet, wo wir erst verstehen, was wir gehört haben. Wenn wir ein Wort sehen, geschieht Ähnliches über unsere Augen, Licht wird über den Sehnerv in den Thalamus gebracht und von dort in den Hinterhauptslappen gesendet via Elektrizität und Neurotransmittern. Im Hinterhauptslappen wird das Gesehene mit bereits Gesehenem verglichen und dann nahezu gleichzeitig ins Vorderhirn gesendet, wo wir das Gesehene erst verstehen. Das Vorderhirn (Frontallappen) ist unser Vernunftsitz. Dieses Vorderhirn kann man sich auch kaputt saufen. Der Alkohol wirkt besonders giftig auf den präfrontalen Cortex. Dort werden unsere Gefühle kontrolliert. Daher steigen bei dem Münchner Volksfest, dem Oktoberfest durch exzessiven Alkoholgenuss die Vergewaltigungen und anderes delinquentes Verhalten an. Betrunkene Männer sehen in jeder geschlechtsreifen Frau das Wunder der Natur. Die Vernunft bedarf eines gesunden Körpers. Das erkannte schon John Locke. Aber wie gesund muss er sein? Und was ist nun wieder Gesundheit? Was ist ein gesundes Gehirn? Müssen wir die alttestamentarischen Visionäre als krank betrachten – aus heutiger Sicht? Oder machen wir den Fehler, Narrationen eins zu eins auf die Wirklichkeit zu übertragen? War es früher leichter göttliche Visionen zu haben? So drückte es der nach Paris exilierte Siebenbürger Emil Cioran einmal aus: Früher war alles voll von Göttern, heute ist alles leer von Göttern. Besorgte Bürger meinen etwas vereinfacht: Früher war alles besser. Müssen wir den Exitus vom lieben Gott bedauern? Jene vertikale Transzendenz, die ein göttliches Prinzip über unsere Vernunft stellt und sich in Rechtgläubigkeit äußert, ist trotz Nietzsche nicht totzukriegen. Was sieht der Gläubige, das der Ungläubige einfach nicht sehen kann? Das Licht fällt als Reiz auf unsere Netzhaut, wird als elektrisches Signal verarbeitet und wahrgenommen, danach wieder erkannt. Zwischen Verarbeitung, Wahrnehmung  und Wiedererkennung liegen vernunftfreie Strecken bis wir verstehen. Ein Rest platonischer Ideen hat sich in die Neurologie hinein geschmuggelt. Das erste Licht war nur die Unterscheidung von hell und dunkel. Doch das war schon ein erheblicher evolutionärer Vorteil. Der Gebrauch unserer Sinne unterliegt daher einem Nutzen. Was nutzt uns eine göttliche Vision? Du kannst  nicht tiefer fallen als in die Hand Gottes, die er zum Heil uns allen barmherzig ausgespannt zitierte Margot Käßmann den Kirchenliederdichter Arno Pötzsch. War sie noch betrunken, als sie dieses Lied pfiff?Ist dieses eingebildete Sicherheitsnetz nützlich? Wir wissen alle, welche Kräfte es freisetzen kann, wenn wir uns sicher und geborgen fühlen. Ob wir uns in einer Familie bergen, in einer Nation, in einer Idee oder in einem Wahn macht einen ethischen Unterschied, aber keinen erkenntnistheoretischen. Eine der Fehlkonstruktionen der Aufklärung war immer diese Vermengung. Aber lässt sich das so einfach trennen?  Licht kann uns blenden und damit überreizen. Meinten Adorno und Horkheimer dieses Problem, als sie den Begriff der Aufklärung kritisch eingrenzen mit dem Satz: Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils? In dem Film Fat Man and Little Boy sieht man die Protagonisten um Oppenheimer versammelt und in ein Licht blicken, das sogar ihre Gesichtsmuskulatur verzerrt. Die Wissenschaft verbreitete die Hölle auf Erden. Absurd komisch ist dabei, dass das Projekt den Namen Trinity-Projekt trug. Dabei ist der Heilige Geist präformierte Vernunft. Der Satz „Ich bin es“ von Jesus kann auf zwei Arten gelesen werden. Auf die ängstliche Frage des Pilatus „Bis du tatsächlich der König der Juden?“ könnte Jesus geantwortet haben: „Ja mein Freund, du hast mich erkannt, ich bin es.“ Oder auf die ängstliche Frage des Pilatus „bist du der König der Juden“, könnte Jesus geantwortet haben „hör mir doch zu, ich bin es.“ In beiden Fällen geht es um ein Wiedererkennen als der zentralen frohen Botschaft. Es ist weniger Jesus der Gott oder König, sondern die Form des Erkennens als Heiliger Geist, als reflektierendes Erkennen. Weil wir im anderen, im Individuum Gott erkennen. Damit ist nicht gemeint, Gott wohne in allen einfach so. Sondern das Individuum, das „Ich bin es“ (Ego Eimi) ἐγὼ εἰμί wird ja immer wieder zelebriert, Joh 6,35 „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.“ (nochmals in Vers 48)   Joh 8,12  „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“   Joh 10,9  „Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden.“  Joh 10,11  „Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.“  Joh 11,25 f.  „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.“

Das erste Licht der Aufklärung war bescheidener. Es war bei John Locke noch  nicht enlightenment, nicht das Licht einer Sonne, sondern eher ein Kerzenlicht, das den Menschen hilft, sich in den dunklen Räumen zu orientieren. „Es ist für einen trägen und eigensinnigen Diener, der seine Arbeit bei Kerzenlicht nicht verrichten mag, keine Entschuldigung, sich darauf zu berufen, dass er keinen hellen Sonnenschein gehabt habe. Die Leuchte, die in uns entzündet ist, strahlt für alle unsere Zwecke hell genug. Die Entdeckungen, die wir mit ihrer Hilfe machen können, müssen uns genügen. Und wir gebrauchen unseren Verstand dann richtig, wenn wir alle Objekte in der Weise und in dem Maße betrachten, wie es unseren Fähigkeiten entspricht, und wenn wir sie auf solche Gründe hin untersuchen, die uns zugänglich sind, nicht aber unbedingt in maßloser Weise einen Beweis verlangen und Gewissheit fordern, wo nur Wahrscheinlichkeit zu erlangen ist, die ausreicht, um alle unsere Angelegenheiten zu besorgen.“  Das ist ja schön bescheiden, wurde doch aus dem Kerzenlicht inzwischen eine regelrechte Lichtverschmutzung. So mancher sehnt sich daher nach der guten alten Dunkelheit zurück, wo die Augen nicht so schmerzten vom ständig blendenden Licht der Erkenntnis. Ressentiments resultieren aus dem Schonblick ins Dunkle und dem Irrtum, es scheine jetzt weniger Licht als früher. Inzwischen ist die Sonne ein künstliches Projekt. Unser Augenlicht – immer noch natürlich – kann all die ausgeleuchteten Winkel gar nicht mehr überblicken. Angetreten, um den Menschen die Herrschaft zu übergeben ist nun ohne das Licht der künstlichen Intelligenz kaum noch ein Stab zu machen. Dabei ist künstliches Intelligenz nicht selbstmächtig, weil ihr die Vernunft fehlt. Dem Menschen ist es bewusst, was er sieht. Ohne Vision keine Aufklärung mehr? Im sensomotorischen Cortex (Scheitellappen) verfügt der Mensch über ein seltsam deformiertes Abbild seiner selbst. In den 1950er Jahren bürgerte sich in der Neurowissenschaft der Name „Homunculus“ für diese Struktur der Eigenwahrnehmung ein. Überdimensionale Habsburger Lippen, eine riesige Zunge (die Einstein beeindruckt hätte) und klobige Patschhände eines Klitschko würdig wird mit Hilfe der so genannten Propriozeptoren im Gehirn verfertigt. Diese Struktur ist schuld daran, dass wir unter Phantomschmerzen leiden. Denn das Gehirn verhält sich konservativ und akzeptiert den Verlust einer Gliedmaße nicht so ohne weiteres. Ist dies der Heilige Geist? Sicher nicht. Der Homunculus ist ein Dämon, den sich die Alchemisten als magischen Helfer bastelten. Dieses kleine Menschlein in unserem Gehirn ist eine erstaunliche Orientierungshilfe. Durch den Homunculus wissen wir sogar im Dunkeln ein bisschen, wo wir sind. Unsere Sinne sind überall. Für jede Vision gibt es eine natürliche Erklärung. Für jedes Licht ist die Sonne zuständig. Wer ist für die Sonne zuständig? Als Bertrand Russell bei einer Vorlesung den Bau des Universums erklärte, meldete sich eine ältere Dame empört. „Alles falsch, was Sie sagen Mister Russell. Die Erde ruht auf dem Rücken einer Schildkröte.“ Seiner britischen Natur gemäß fragte Russell interessiert – aber mit zartem Spott – nach, worauf denn dann die Schildkröte zu ruhen gedenke? „Das ist doch einfach“, meinte die Dame und spottete nun ihrerseits. „Sie ruht auf dem Rücken einer anderen Schildkröte.“  Insofern hat die Sonne ihr Licht von einer noch größeren Sonne, bzw. von einer noch gewaltigeren Natur. Die Natur ruht auf der Natur. Ad Infinitum. Damit sind wir wieder beim Kerzenlicht angelangt, das eben nur so weit leuchtet wie es eben leuchten kann. Selbst wenn die Kerze 100.000 Watt hätte, bleibt sie eine Kerze. Diese Bescheidenheit ist ein Kernelement der englischen Frühaufklärung und wurde von den französischen Hitzköpfen über Gebühr strapaziert. Sie machten aus dem Kerzenlicht eine Guillotine. Wer sich also dieses Licht zu nahe vor die Augen hält, der verbrennt sich, oder verliert den Kopf. Die Sonne hat man am besten im Rücken. So bleibe denn die Sonne mir im Rücken! Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend, ihn schau‘ ich an mit wachsendem Entzücken. Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend, dann abertausend Strömen sich ergießend, hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend. Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend, wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer, bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend, umher verbreitend duftig kühle Schauer. Der spiegelt ab das menschliche Bestreben. Ihm sinne nach, und du begreifst genauer: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. Nun, das mag ja ein heiteres Forscherleben sein, sich am nächstliegenden zu erfreuen. Und doch schielen wir allzu gerne zur Sonne. Daher ist eine mit Kohle geschwärzte Brille bei einer Sonnenfinsternis sehr nützlich. Göttliches Visionen? Bitte nur mit der schützenden Brille der Theologie.
Als Rousseau die Künste und die Wissenschaften verwarf und die Natürlichkeit als Leitidee des Guten einführte, schrieb d’Alambert in der Einleitung der Enzyklopädie „dass ihre Vernichtung kein Gewinn für uns wäre. Die Laster blieben uns, und die Ignoranz hätten wir obendrein.“
Der Mensch ist nicht von Natur aus gut, auch nicht von Natur aus böse. Seine Unschuld resultiert lediglich aus dem Fehlen eines Begriffs dafür. Nur, weil ich etwas nicht sehe, heißt das nicht, dass es nicht da ist. „Schau ich hier, hinter mir
hab‘ ich meinen Überzieh’r – Seh‘ ich weg, von dem Fleck ist der Überzieher weg!“ So geht ein Couplet von Otto Reutter aus den 1920er Jahren. Natürlich ist ein Wolf nicht böse, weil er ein Schaf reißt. Aber könnte sich das Schaf dazu äußern, ist immerhin vorstellbar, dass es da anderer Meinung ist. Dass wir sehen ist das eine, was wir sehen, das andere. Und so haben wir ja noch das Gedächtnis. Ein letzter neurowissenschaftlicher Vermerk dazu. Wir sehen den ganzen Tag über sehr viel. Alles können wir uns davon nicht merken. Einen großen Teil sondern wir schon früh ab über unser Ultrakurzzeitgedächtnis. Da geht ein großer Teil verloren, wird gelöscht. Ein kleiner Teil landet im Kurzzeitgedächtnis, im Arbeitsspeicher unseres Hippocampus. Das sind zwei wie Seepferdchen aussehende Würmer von 10 Zentimeter Größe, die  – mit den Basalganglien – einen Ring um den Thalamus bildet. Wenn wir uns schlafen legen, sorgt ein verändertes Betriebsklima des Gehirns dafür, dass das am Tag im Hippocampus zwischengespeicherte Gesehene mit unserem Neocortex vernetzt wird. Hier wird noch einmal kräftig aussortiert. Einen Teil davon erleben wir als Traum. So sind Träume keine Schäume, sondern Teil der Vernunft. Von unseren Träumen geht ein planerisches, antizipierendes Verhalten aus. Gemeinsam mit unserem Kleinhirn (das unbewusst plant, zum Beispiel Bewegungen und immerhin über drei Viertel aller Nervenzellen verfügt) ist kein geringer Teil unseres Verhaltens, auch unseres Seh-Verhaltens, neurobiologisch einstudiert. Wir lernen quasi im Schlaf. Ein guter, tiefer Schlaf sorgt für einen gesunden Körper und verhindert so manche Vision. Studentische Unruhen und revolutionäre Visionen gehen nicht selten mit schlaflosen Nächten einher, mit viel Alkohol und anderen Drogen. Aber so manche schlaflose Nacht möchten wir dennoch nicht missen.

Aufklärung ist die Maßeinheit, die Skala. Die Technik ist nur ein Hilfsmittel und nicht selbst die Aufklärung. Der Mensch entscheidet, er ist das Maß aller Dinge der Seienden, das sie sind und der nicht Seienden, das sie nicht sind.  So war es schon in der antiken Aufklärung um die 84. Olympiade. 

Bernhard Horwatitsch Der Münchner Autor und Dozent schreibt seit vielen Jahren für deutsche und österreichische Literaturzeitschriften. Seit 2004 gibt er Kurse in „kreativem Schreiben“ und „Literaturgeschichte“ an der Münchner Volkshochschule und dem Münchner Bildungswerk. Gemeinsam mit Arwed Vogel arbeitet er seit 2008 als Dozent und Coach für das „freie Literaturprojekt“ (www.literaturprojekt.com). „Schreibt seit vielen Jahren dies und das und wird es auch weiter tun. Warum er das tut, hat er längst vergessen.“

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