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Aphorismus

Von Bernhard Horwatitsch – Kultur

Aphorismus

„Einer, der Aphorismen schreiben kann, sollte sich nicht in Aufsätzen zersplittern.“ So notierte es der österreichische Schriftsteller Karl Kraus im Jahr 1909. Wie aber verhält es sich mit einem Aufsatz über den Aphorismus? Brauchen wir das? Ich denke ja, das benötigen wir in der Tat. Denn der Aphorismus ist nicht nur ein weiser Gedanke. Es kann sich in der knappen, verdichteten Form auch Sprengstoff einlagern.

 Aphorizein, abgrenzen, definieren, da steckt das Wort Horos mit drin, wovon auch unser deutsches Wort „Horizont“ abgeleitet ist.  Der Gedankensplitter,  die Lebensweisheit, das Bonmot, sie wirken nur in einem offenen Raum. Ein Blick in den Himmel. Dort könnte das Ende sein, der Anfang, oder einfach nur ein weiterer Horizont, der sich im Horizont verbirgt ad infinitum ad nauseam.  Paradoxien, Wortspiele, Mehrdeutigkeiten, alles das was uns Grenzen aufweist, unseren Gedanken aber paradoxerweise wieder einen Spielraum gibt, jenseits vorgekauter Ansichten.

Die ersten Aphorismen meines Lebens? Das war wohl 1980. Ich erwarb das Buch „Das Gewicht der Welt“ von Peter Handke (Erschienen 1979). Und das hat mich eine Zeit begleitet.
„Übereinkunft, daß man liegend nicht zum Reden gezwungen werden kann: „Steh auf! Sprich!“ las ich da in Peter Handkes Notizen und fühlte mich sofort davon angesprochen. Warum? Ich empfand eine unglückliche Differenz zwischen meinen Gedanken und meinem Ausdruck. Schweigen erschien mir eine Notwendigkeit, die ich in dieser Sentenz von Handke bestätigt fand.

Der Purismus dieser Art von Sprache hat mich früh geprägt. Durch die dicken Romane die ich später las, die Manns, Feuchtwangers, Jahnns, Musils, habe ich mich oft eher gequält. Natürlich waren diese Romane angesagt und sind es bis heute. Unter 200 Seiten wird ja kaum noch was veröffentlicht, trotz der Papierknappheit unserer Zeit. So manche als Roman bezeichnete Prosa ist nur eine in die Länge gezogene Erzählung, die man auch in einer Kurzgeschichte auf den Punkt bringen könnte.
Durch Samuel Beckett wurde ich schon mit 18 Jahren in die verknappte Prosa eingeführt. Worstward ho (Becketts letzte Novelle) las ich mit 25 Jahren. „Ever tryed. Ever failed. Egal. Try again. Fail again. Fail better. “ Mein erster Erzählband der dann ein paar Jahre später erschien, trug den Titel „Anleitungen zum Scheitern.“

Doch dann kam E. M. Cioran, wo schon die Titel aphoristisch aufgereizt wirkten „vom Nachteil geboren worden zu sein“, zum Beispiel. Aus dem Jahr 1979. Dieser Philosoph war noch in der K.u.K geboren worden 1911 in Siebenbürgen. Er ging nach Paris und lehrte in den 1960er Jahren Philosophie an der Sorbonne. Er vereinigte alles, was ich war in seinen knappen Texten. „Syllogismen der Bitterkeit“, oder „von Tränen und von Heiligen“.

„Ich möchte frei sein, aufs äußerste frei. Frei wie ein Totgeborener.“  Dieser tief antinatalistische Spruch fraß sich in meinen Kopf. Etwas später las ich dann in Sophokles den Spruch „Das Beste ist es, nie geboren zu werden, das zweitbeste, früh zu sterben.“
Das war fundamental und punktete. Das traf meine depressive Pubertätsparanoia. Es dauerte, bis ich selbst in der Lage war, mich selbst auf den Punkt zu bringen. Und um die Dialektik des Aphorismus für mich nutzbar machen zu können, benötigte ich ein dringendes Korrektiv. Denn später erfuhr ich über die Verfehlungen Ciorans in seiner Jugend, dass er ein Bewunderer Hitlers gewesen sein soll. Da war er grade 20 Jahre alt (wie ich, als ich ihn las). Er hat sich später entschuldigt.

„Ich weiß überhaupt nicht, weshalb wir hienieden etwas tun, warum wir Freude und Bestrebungen, Hoffnungen und Träume haben müssen. […] Aber was gibt es in dieser Welt schon zu gewinnen? […] Es gibt keinerlei Argumente für das Leben.“

Das habe ich unbewusst mit aufgenommen. Ich war noch nicht volljährig, als mich der freie Büchermarkt auf Emil M. Cioran losgelassen hat. Einige Jahre später notierte ich: „Ich gehe indem ich bleibe. Das ist die Dialektik eines wirklich großen Nihilisten.“Also brauchte ich noch ein paar Jahre Zeit, um mich von dieser frühen Lektüre zu befreien, bis ich Anfang des Jahrtausends schrieb: „Ich rufe in die Wüste: Mehr Nischen! Mehr Vielfalt! Weniger Kategorien, weniger Eindeutigkeiten! Und man ruft mir entgegen: Einschätzung! Sicherheit! Ich rufe: Freiheit, Eigenständigkeit! Man kontert: Kontrolle, Verantwortung.“
Die Moral dieser persönlichen Entwicklung ist, dass die verdichteten, verknappten Sentenzen in wenigen Worten ein Welt- und Menschenbild verpacken, das man erst mit einer gewissen geistigen Reife in der Lage ist auszupacken und zu begreifen. Dann ist man unter Umständen gezwungen sich selbst zu hinterfragen. Eine Übung, die empfehlenswert ist, aber alles andere als selbstverständlich.

Doch Aphorismen müssen nicht immer so kurz sein.  Das Wort Begrenzung – wenn man es übersetzt – hat seinen Ursprung in der antiken Medizin. Es waren die medizinischen Lehrsätze des Hippokrates, die als Namensgeber des Aphorismus dienten. Und so hat sie übrigens auch Nietzsche genutzt. Oder Goethe, oder Lichtenberg. Alles großartige Denker und Autoren, die ihr langes Nachdenken über ein Thema in der rhetorischen Würze der Prägnanz darstellten.  Begrenzung ist also nicht allgemein, generisch zu verstehen, sondern thematisch. Hier noch eine Kostprobe aus meiner Aphorismen-Sammlung:

„Wenn man einen Château Margaux 1787 aus einem Plastikbecher trinkt, dann liegt die dekadente Würze dieses Tuns sicher nicht am Wein. Inhalt und Form mengen sich zu einer hochprovokanten Aussage. Und Goethes berühmter Spruch „Das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters besteht darin, dass er den Stoff durch die Form vertilgt“, bekommt eine hinterhältige Bedeutung. Wenn man dagegen einen Domkellerstolz von seiner Plastikflasche in ein edles Zwiesel-Glas schüttet, ist dann die Dekadenz dieser Handlung nicht vom Wein abhängig? Noch verwerflicher, wenn man den Domkellerstolz auch noch degustiert? Als notorischer Biertrinker hätte ich nicht die geringste Chance, diesen Betrügereien auf die Schliche zu kommen. In der Form liegt die Täuschung. Damit ist der Meister im Sinne Goethes ein Betrüger. Wertfrei gesehen, kann man auch zum Wohle anderer betrügen, ohne Egoismus schöne Werke schaffen, die dennoch Betrug sind. Die große Gefahr besteht darin, dass der Betrug auffliegt. Und dazu sagte Thomas Pynchon trefflich: In der Arglosigkeit der Kreatur liegt die Amoral des Meisters.“

Das geht fast in ein Essay über. Aber dafür ist es wiederum zu kurz. Was soll das nun sein? Ein Gedankensplitter ist es immer noch. Ein durchaus abgeschlossener Gedanke vielleicht? Vor allem zielt der kurze Text auf die Form ab. Denn die Form kann den Inhalt derart verschleiern, dass wir durch die Form moralisch stolpern. Die Werbung – der moderne Aphorismus – gibt uns immer wieder ein Beispiel für die moralisch durchaus zweifelhafte Formalisierung von Text und Bild.
Schon von daher hat es der Aphorismus als Form schwer. Und ist doch immer beliebt. Denn in jedem Kalender findet man sie, in jedem Glückskeks taucht er auf. Politiker, Bankdirektoren, Bauunternehmer, Richter und Henker haben stets einen Aphorismus parat, der ihre Handlungen untermauert.

Frei nach dem Motto:

„Die große Regel: Wenn dein bißchen an sich nichts Sonderbares ist, so sage es wenigstens ein bißchen sonderbar.“

Das hat Georg Christoph Lichtenberg im 18. Jahrhundert schon auf den berühmten Punkt gebracht.

Nietzsche wiederum würde antworten:

„Der große Stil / Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.“

Die Möglichkeiten sind endlos. Die Komplexität des aphoristischen Kosmos ist kaum zu überschätzen.

„Man kann nichts von nichts sagen. Daher kann es keine Grenze für die Zahl der Bücher geben.“

 So E.M Cioran mal wieder.

Der Aphorismus hat eine Sonderstellung. Das ist offensichtlich. Wird hoffentlich offensichtlich werden.

„Irrtum der Philosophen / Der Philosoph glaubt der Wert seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau: die Nachwelt findet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird: also darin, daß jener Bau zerstört werden kann und doch noch als Material Wert hat.“

Der große Zertrümmerer Nietzsche war kein Zufall. Es war eine Zeit in der die Kongruenz von Sprache und Sinn zerbrochen war und sie ist bis heute nicht gekittet worden.  Gerade der Expressionismus liebte die Kürze. Verknappung bis der Inhalt gar nicht mehr rekonstruierbar ist. Sprache wird zur zweiten Wirklichkeit. Und sie ist eben nicht deckungsgleich mit der ersten Wirklichkeit. Gut 70 Prozent unserer Kommunikation ist non-verbal, wird bestimmt durch Gestik, Mimik, Körpergeruch, Kleidung, Sprachmelodie und dem Verhalten.
„Es ist besser, in das Gebet ein Herz ohne Worte zu legen, als Worte ohne Herz“, sagte Mahatma Gandhi einmal.

Doch die Verweigerung zu punkten, einen Punkt zu machen aus purer Angst vor dem Missverstanden werden, das ist lächerlich. Denn wenn wir uns über die Sprache wesentlich leiblich verstehen, dann ist die Übereinstimmung von Leben und Text die große Illusion und die große Wunschvorstellung der Menschheit. Daher ist der Aphorismus eine heilsame Reduktion und er tritt selbst nicht so auf, wie er gerne präsentiert wird. Der Aphorismus punktet, macht einen Punkt, nicht weil es dazu nichts weiter mehr zu sagen gibt, sondern weil jetzt erst das Sagen und Reden anfängt. Der Aphorismus verführt uns zum Diskurs, ist ein urdemokratisches Instrument und in seiner historischen Wurzel in der Antike war er auch aufklärerisch. Doch dazu bedarf es einer Anstrengung, einem Willen dazu, sich auch mit problematischen Texten auseinanderzusetzen und nicht nur einfach alles zu streichen, was nicht konform ist und nicht in unser hübsches Bild einer toleranten Demokratie passt. Protagoras Bücher wurden öffentlich verbrannt wegen einer einzigen Sentenz:

„Von Göttern weiß ich nichts, weder dass sie sind noch dass sie nicht sind.“

Dafür wurden seine Bücher verbrannt und er verbannt. Schlimm, weil wir seine Gedanken jetzt brauchen könnten. Protagoras wurde als Sophistiker gebrandmarkt, einem Gelehrten, der seine Dienste gegen Geld anbietet. So müssen wir uns auch darüber Gedanken machen, ob der Geldkapitalismus die Freiheit der Kunst ermöglicht oder eher gefährdet. Dass nicht alles Gold ist, was glänzt, diese alte Sentenz ist längst eine Binsenwahrheit geworden. Das ist die Gefahr. Die Verbinsung von Gedanken geht schneller, wenn die Gedanken knapp in wenigen Worten vorliegen. Und wir bemerken die tief eingebrannten und keineswegs harmlosen Gedanken nicht mehr. Nur weil sie nicht mitgeschrieben wurden, nur mitgedacht. Der Aphorismus hilft uns, das was nicht geschrieben wurde aufzudecken. Der Aphorismus lehrt uns Kontextualität und schult unsere Fähigkeit Symbole und Metaphern zu lesen. Denn wenn wir verlernen zu deuten, verlernen wir zu sprechen.

Bernhard Horwatitsch https://www.literaturprojekt.com/

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Eine Antwort zu „Aphorismus”.

  1. Avatar von Marie- Sophie Michel
    Marie- Sophie Michel

    Sehr guter Essay -! Ich freue mich schon auf die nächste Veröffentlichung meines hochgeschätzten und klugen Autorenfreundes Bernhard Horwatitsch !
    ,

    Gefällt 1 Person

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