Bernhard Horwatitsch – Bewusstsein

Das Ich und der Tod
„Das Ich ist die Spitze eines Kegels, dessen Boden das All ist.“ – Christian Morgenstern, Stufen
Das Ich erlebt der Mensch als das eigene Sein in den Ausdrucksformen von Denken, Fühlen und Handeln (Persona = Maske) und betrachtet sich insofern auch meist als den Urheber derselben. Das Ich wird daher als Persönlichkeitsmittelpunkt empfunden.
Im Ich-Erleben ist allerdings auch das Erleben des Ich-Zweifels zugegen: bin ich der, für den ich mich halte – oder habe ich nur ein Ich-Bild von mir (meinem Ich) – bzw. bin Ich nur Vorstellung, gibt es das Ich evtl. überhaupt nicht als reales Sein? Dies ist die große religiöse Frage nach dem, was der Mensch ist – also die Frage nach einer Existenz von Seele.
Zunächst gibt es nur einen Reiz spendende Außenwelt und die Innenwelt ist nichts weiter, als eine Imagination: Das Ich erscheint als ein Konzept (Imagination erweitert als Symbol). Ein Bewusstsein von sich selbst zu haben, ist zunächst ein Gedanke ohne biologisches oder physiologisches Korrelat (Problem der Qualia, Reiz-Reaktionsmodell). Das Gehirn ist eine Maschine, die zufällig Bewusstsein erzeugt. Eine Maschine, die aus der Kontingenz des Seins Regeln ableitet und so Normen festlegt, entwickelt zufällig dazu ein Bewusstsein seiner Tätigkeit. Der Geist ist ein chinesisches Zimmer (siehe das gleichnamige Gedankenexperiment von John Searle).
Das Ich ist ein Postulat, ein Gefordertes, um überhaupt die religiöse Frage („Wer bin ich?“) stellen zu können und damit die Zufälligkeit in Sinn verwandelt.
Betrachtet man dieses Postulat genauer, ist es hilfreich, sich der Trickkiste der Psychoanalyse zu bedienen. Aus psychoanalytischer Sicht[1]: So wie die Mutter das Kind ausstößt, stößt sich das Kind ab. Der objektfreie Fötus wird von der Mutter und dem Vater als etwas “für sich” gedacht. Doch zunächst ist der Fötus nicht lebensfähig ohne die Mutter und (mittelbar) auch nicht ohne den zeugenden Vater. Das Wesen Fötus ist zunächst “eins” mit den Erzeugern – ungetrennt als bloße Potenz des Werdens vorhanden. Das bereits vorhandene Ich der Erzeuger stößt dann das Wesen Fötus in die Außenwelt, die jeweilige Innenwelt des Ichs. Das Wesen empfindet dieses als eine Art Tod (zum Trauma der Geburt gibt es viele Theorien, von Otto Rank[2] bis Stanislav Grof[3]). Das Trauma der Geburt ist also die erste Todesnäheerfahrung als Existenzerfahrung. Damit beginnt die Objektbesetzung[4]. Der Todestrieb des S. Freud ist damit nicht etwa ein destruktiver Trieb. Das Nirvana-Prinzip[5] ist auch kein Bedürfnis nach einem anorganischen Zustand. Der Todestrieb ist vielmehr eine vom postulierten Ich erzeugte Energie hin zum objektfreien Zustand. Das extrem unfertige Wesen Fötus kann sich nicht als selbständig definieren. Erst im Prozess der Individuation geschieht diese Selbstdefinition und erreicht das Wesen ein Ich, welches relativ unabhängig ist. Wobei diese Unabhängigkeit durch die soziale Praxis der Spiegelung operativ bestimmt wird. Somit existiert der Mensch zwischen Flucht in die objektfreie Welt (operative Freiheit) und Angriff auf eine objektbesetzte Welt (das Fremde wird immunologisch abgestoßen), mit einem Ich das draußen ist. Das Ich ist ein von den Eltern abgespaltetes Trieberlebnis. Das Ich ist die Grundenergie des elterlichen Doppelwesens. Ich erinnere hier an den berühmten Mythos des Doppelwesens, welches uns Aristophanes im berühmten „Gastmahl (Symposion)“ zum Besten gibt[6]. Damit erklärt sich das Streben des Wesens mit seinem Ich zum gegengeschlechtlichen (als Ergänzung) Wesen mit seinem Ich: nicht nur im heterosexuellen Sinne gemeint, denn auch gleichgeschlechtliche Partner suchen nach einer Definition ihrer selbst in der sozialen Praxis, nach sozialer Rollenverteilung (im Spiegelspiel). Die Erfahrung, Grundenergie des elterlichen Doppelwesens zu sein wird am innigsten während der objektlosen Zeit im Mutterleib empfunden. Die Zeit der Gravidität stellt die innigste Verschwisterung der Eltern dar. Einheit zu sein, also dem platonischen Erosmythos gerecht zu werden, stellt wiederum einen Zustand der Ichlosigkeit dar, da es sich um eine totale Gemeinschaft handelt. Ein zweigeschlechtliches Wesen[7] benötigt kein Konstrukt namens Ich. Die Totalität von Mann und Frau würde natürlich einer Fortpflanzung im Wege stehen, da so eine Totalität es nicht nötig hätte, sich fortzupflanzen. Die Fortpflanzung ist ja gerade ein Produkt unserer Unvollkommenheit[8]. Somit ist also das Ich nichts weiter als ein Ersatz für den Mangel ganz zu sein. Was wäre, wenn wir unser Ich aufgeben würden, wie es ja der Buddhismus und der Hinduismus im weitesten Sinne fordern? Wir hätten aller Wahrscheinlichkeit nach das schmerzliche Erlebnis, nicht vollständig zu sein. Wir hätten das Erlebnis des Todes. Die Nähe des Ich zum Tod zeigt sich bereits bei der Geburt, wo die plötzliche Trennung von der objektlosen Einheit zum Trauma führt, und als Ersatz das Objekt besetzt, womit nichts anderes gemeint ist, als dass sich ein Ich bildet, sobald man sich vom Anderen trennt. Die Trennung wird nachvollzogen und somit plausibel. Der Tod tritt nicht ein, obwohl uns ein Leben lang das Gefühl begleitet, einmal sterben zu müssen. Die Halbwertszeit unseres Ich ist sehr begrenzt. Das Wort “Wesen” deutet bereits auf den Prozess des Verfalls (ver-wesen). Wir sind ein Ich-wesen (ver-wesendes Ich). Wir empfinden einen natürlichen Mangel, weil wir monogeschlechtlich sind. Wir kompensieren die Trennung von unserem Doppelwesen (Eltern) durch unsere Ichbildung. Andererseits lässt sich auch sagen: wir empfinden diesen Mangel durch unser Ich. Jedoch kann Ursache und Wirkung nicht das Gleiche sein. Außer bei Gott. Nach jüdischem, islamischem und christlichem Glauben schuf Gott uns nach seinem Ebenbild. Gott ist Wirkung und Ursache in einem. Der moderne Mensch ist vollständig Ich auf der einen Seite, und hat das Ich nach einem Stadium der Vergötterung zu einem nahezu alleingültigen Gott gemacht. Dies war beileibe nicht immer so. Noch im Mittelalter empfanden die Menschen sich selbst nur als von Gott geliehen. Der Mensch im Mittelalter (insbesondere im Rahmen der Romanik – in der Gotik verändert sich dies wieder) gehörte sich nicht selbst. Er gehörte Gott. Erst die große Naturkatastrophe der Pest und die gesellschaftliche Katastrophe des 30jährigen Krieges brachten dieses Selbstverständnis ins Wanken. Der Mensch fing an, sich Gott einzuverleiben und erlebte die Geburt seines Selbst. Renaissance heißt ja „Wiedergeburt“, es entstanden der Humanismus und eine enorme Lust in der Kunst, den Menschen selbst darzustellen. Dieses neue Selbst-Bewusstsein ist also eine Reaktion auf kollektive Todeserfahrungen.
Inzwischen erlebte der Mensch durch die Wissenschaften eine zunehmende Entmachtung (kopernikanische Wende, Psychoanalyse, Verlust des Dogmas von der Willensfreiheit).
Bezeichnet man das Ich als etwas, was vom Wesen getrennt als bloßes Symbol existiert (Psychoanalyse), kündigt dies einen Paradigmenwechsel an. „Die Entthronung des Individuums als Zentrum und letzter Instanz des Menschlichen ist für unser Selbstgefühl mindestens ebenso unannehmbar, wie die Relegierung unseres Planeten vom Zentrum des Universums zu einem drittklassigen Trabanten der Sonne zurzeit der heliozentrischen Revolution“, schreibt Paul Watzlawick[9].
Das Ich, das Ego auf eine hirnanatomische Struktur zu reduzieren entmachtet unser Individuum auf ähnliche Weise, wie das heliozentrische Weltbild unsere Erde. Schließlich könnte man so ein Areal einfach entfernen (siehe den Fall Phineas Gage, dem bei einem Unfall eine Eisenstange das Hirn durchbohrte, was seinen Charakter völlig veränderte). Anfang des vorigen Jahrhunderts wurde das Körperschema als sensomotorisches Abbild eingeführt. Und die berühmte Gummihand, die wir bei entsprechenden Experimenten für unsere eigene Hand halten[10], zeigt, dass unsere innere Repräsentation ein operativer, erlernter Vorgang durch Spiegelungen ist. Die kultur- und sozialwissenschaftliche Annahme, das Ich sei ein Konstrukt sozialer Operationen hilft uns ebenfalls nicht. Dem widerspricht auch das Vorhandensein von Naturtatsachen. Denn dieses „Ich“ ist durchaus real vorhanden, auch wenn es nicht auf physischer, chemischer oder biologischer Substanz beruht (siehe Vico[11]).

Im Angesicht des Todes eine gewisse Zeit zu überleben, rettet das Ich zumindest als etwas „Lebensnotwendiges“. Schließlich brauchen die Menschen den Planeten Erde für ihre Existenz, auch wenn es sich dabei nur um einen drittklassigen Trabanten handelt, der ganz verloren im riesigen Universum taumelt. Und so ist das „Ich“ Zentrum des einzelnen Seins. Auch wenn sich dieses Ich unter Milliarden anderen kaum als ein Zentrum begreifen kann, und ähnlich verloren auf der Erde taumelt, wie die Erde im Universum. Die Entmachtung des Individuums – die sich aktuell in der Verneinung unserer Willensfreiheit spiegelt[12] – wird uns auch nicht davon befreien können, Entscheidungen treffen zu müssen, wir werden weiterhin Gefühle von Hass, Liebe, Sehnsucht, Freude oder Trauer empfinden, und diese als existenziell begreifen. Und wir werden aus unserem Zentrum heraus (dem Ich) weiterhin Entscheidungen treffen und so tun, als wäre dies aufgrund unseres freien Willens geschehen. Nimmt man Vico ernst, dann ist dieser freie Wille keine Illusion, sondern als eine selbst gemachte Wahrheit ausschließlich erkennbar.
Das Ich mag reines Konstrukt sein, nur ein Postulat, nirgends zu verorten, aber es hat in philosophischer Hinsicht eine wichtige, ja lebenswichtige Funktion: die Bewältigung des Todes. Der Schmerz über unsere Endlichkeit, auch über unsere Zufälligkeit, findet im Ich einen Tröster. Die Ortlosigkeit unseres Ichs ergibt sich aus der sphärischen Lokalisierung dieses Ichs. Ich finde meinen Ort in einem besonderen Innen: Und bin damit eine Welt.
Bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung zum Beispiel ist gerade dieses Ich selbst objektbesetzt.
Hinweise dazu liefert J. Lacan in seinem Theorem vom “Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion[13]”, sowie der griechische Mythos von Narziss (Ovid, Metamorphosen). Narziss entdeckt sich selbst im Außen und stellt entsetzt fest, dass es kein Objekt ist, sondern ein Konstrukt von ihm selbst, das zu lieben völlig absurd ist. Lacan spricht von einem frühkindlichen Befinden, das geschlagen ist von der Unmöglichkeit, sich selbst zu ertragen. Der Mythos lässt Narziss, verliebt in sein eigenes Spiegelbild, konsequent sterben. Der Tod des Narziss ist ein Hinweis der die Theorie vom Ich als Todesverhinderer schlüssiger macht. Narziss musste sterben, da das Konstrukt Ich als “Ich bin”, als Welt des “Ich selbst” nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Das Ich im Außen, das Ich im Anderen (wie es auch Schizophrene erleben) ist ein Todesurteil, welches das Wesen dem Schock der Unvollständigkeit ausliefert. Umso erstaunlicher sind die Ichlosigkeits-Religionen (Buddhismus, Hinduismus). Die Ichlosigkeitsreligion transzendiert das Wesen soweit, dass es eine Vollständigkeitserfahrung erlebt ohne Ich sein zu müssen. Die Prinzipien der Liebe, Bedürfnislosigkeit und der inneren Freiheit gleichen denen christlicher Prinzipien des Mönchtums. Erst wenn man sich voll als Wesen begreift überwindet man den Tod. Das Ich zeigt sich hier als Todbringer. Ein weiteres Paradox. Das Ich, gleichsam Ursache und Wirkung in einem sowie Todesverhinderer und Todbringer in einem. Lösbar ist das Paradox dadurch, dass das Wesen sich nach dem objektfreien Zustand zurücksehnt und dieser Zustand kann nur über das Ich als Motor erreicht werden. In der späten Brahmabindu-Upanishad[14] findet sich die Äußerung, dass die Kraft zur Erkenntnis in jedem, wie Butter in der Milch, verborgen liege; der Verstand diene als Quirl, die Erkenntnis als der den Quirl treibende Strick. Das Ich ist damit kein endgültiger Tatbestand, der dem Wesen des Menschen natürlich impliziert ist, sondern eben nur ein imaginiertes Symbol, welches das Wesen zur Vollständigkeit führt und im Tod wieder verschwindet. Der Zustand der Todlosigkeit (amrta[15]) ist eine Frage des Glaubens und nicht des Wissens. Das ist aber nicht entscheidend, vielmehr zeigt sich darin, dass im Verlust des Ich das Wesen wieder zur Vollständigkeit gelangt. Der vermeintliche Schock, dass das Ich nicht ist, wird so gemildert. Verlieren wir unser Ich, oder erkennen nur, dass das Ich nicht ist (das kommt faktisch auf das Gleiche hinaus), so sind wir kein Innen mehr. Es gibt somit kein Draußen, keine uns fremde Außenwelt. Das Erlebnis der “Unio mystica” zeigt sich hierin. In der psychiatrischen Nosologie spricht man vom sogenannten Depersonalisationserleben[16], der Überzeugung nicht mehr man selbst zu sein, das Ich wird dem Wesen fremd. Die Persönlichkeit synonym gebraucht für Ich (E. Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie) wird bezeichnet als Summe der Erinnerungen, mit den Direktiven dessen, was ich bin. Die Depersonalisation wird als höchst qualvoll erlebt. Auch darin zeigt sich die Tatsache verankert, dass das Ich der Todesverhinderer ist. Gleichsam durch die Trennung vom Wesen ist das Ich auch der Todesbringer. Bei einigen Schizophrenen kommt es zu Transformierungen. Sie sind ein Anderer, nehmen als Notbehelf eine andere Persönlichkeit an, oft bekannte Figuren, z.B. Napoleon, oder auch Figuren aus dem religiösen Leben, wie der Teufel oder Jesus Christus. Sofort klammert sich das ichenteignete Wesen an ein anderes Ich, ein Ersatzich. Auch die Ichlosigkeits-Religion bietet als Ersatz für den Verlust des Ich die Rolle eines Gottes an, oder eines Gott ähnlichen Zustandes (Avatare wie Krishna). Genau genommen ist der Zustand der Erleuchtung ein Zustand der Depersonalisation. Das eigene Denken und Wollen, ist vollständig bezogen auf das göttliche Selbst. Der Verlust des eigenen Innen kommt somit einem Tod gleich. Dennoch stirbt der Schizophrene nicht, lebt selbst dann weiter, wenn die Persönlichkeit völlig zerfallen ist. Natürlich kann er nur existieren mit Hilfe der Anstalt (Betreuung und Pflege). Dies widerspricht der These, dass das Ich nicht ist. Es scheint, als könne das Wesen nur als Ich-Wesen vollständig existieren. Das Ich-Wesen ist ein imaginiertes Symbol der Unvollständigkeit des Wesens. Wir können nur als ein Innen existieren, das sich gegen ein Außen abgrenzt. Ursprünglich starteten wir allerdings als ein vollständiges Wesen. Wie oben erläutert waren wir objektfrei als Einheit mit unseren Erzeugern. Die Schizophrenie wäre (so wie der Versuch, Erleuchtung zu erlangen) also ein bedingungsloses Streben nach diesem Wunsch, wieder objektfrei zu sein in der Elterneinheit. Im Nachhinein wird klar, warum der Todestrieb dieses destruktive Image hat.

In der alten Stoa wird der Erkenntnisprozess auf zweierlei Weise erklärt: Die Vorstellung entsteht durch Einwirkung der Bewegungen auf die Sinnesorgane, welche diese auf das Hegemonikon vermitteln. Das Hegemonikon ist das führende Seelenteil der Vernunft, das “Ich”. Ungeprüft angenommen bewirkt diese Vorstellung eine Meinung (doxa). Erkenntnis entsteht durch die “kataleptische” (Starrsinn, Festhalten) Vorstellung, wo der Geist durch unmittelbare Evidenz (Energie) den Geist zur Zustimmung (Synkatathesis) veranlasst. Eine Vorstellung ist nun einerseits unfreiwillig durch die Gewalt des die Vorstellung erzeugenden Gegenstandes, andererseits ist die Zustimmung des Hegemonikons freiwillig (nach Capelle, Geschichte der griech. Philosophie).
Wenn nun das Wesen vom Ich getrennt ist, ist jeder sinnliche Eindruck zunächst erloschen. Wenngleich das Wesen etwas empfängt, so ist es nicht vermittelbar, da das Ich (Hegemonikon[17]) davon nichts mehr wahrnimmt. Das Ich wird zum absolut dominanten Faktor der Erkenntnisfähigkeit. Möglicherweise ist die alte Stoa die Erfinderin bzw. Entdeckerin des Ich-Wesens. Der Einfluss der stoischen Erkenntnistheorie ist nicht zu hoch einzustufen (siehe Max Pohlenz, die Stoa, Geschichte einer geistigen Bewegung). Wenngleich sich das Mittelalter der aristotelischen Nus-Lehre unterwarf, so blieb die Stoa doch immer lebendig, wurde in der Renaissance auch wieder dominant. Sie entfaltet sich in der modernen Welt elementar (meiner Meinung nach v.a. in der Psychoanalyse). Die stoische Erkenntnistheorie liefert ein Hauptargument gegen die Sensualisten, für die Evidenz der logischen Wahrnehmung. Erkenntnis lässt sich folglich nicht nur auf ästhetische Wahrnehmung beschränken. Die logische Wahrnehmung fällt in den Machtbereich des Ich. Das Ich wäre damit in der Lage, unabhängig vom Wesen Erkenntnisse zu gewinnen. Dies ist v.a. in der Mathematik der Fall. Da das Ich dem Wesen angegliedert, aber nicht wesentlich ist, also nicht wesen-d, so sind v.a. rein logische Erkenntnisse auch von einer zeitlichen Unabhängigkeit. Eine mathematische Erkenntnis bedarf nicht der in Zeit und Raum wesenden Sinnlichkeit. Erst das Ergebnis west wieder, indem es zur ästhetischen Wahrnehmung wird. Die Sinnlichkeit ist, bezogen auf die Logik zweitrangig. Die Logik ist Bewegung des Ich, welche auf die Sinnlichkeit zurückwirkt. Das Ich ist eine eigene Dynamik, welche das Wesen umkreist, ähnlich unserem Atommodell, wo das Elektron um den Atomkern kreist. Dabei ist das Elektron negativ und der Atomkern positiv. Der Atomkern lässt das Elektron um sich kreisen. Das Wesen lässt das Ich um sich kreisen. Dies macht das Wesen, um eine existentielle Kohärenz zu erhalten. Von außen zugeführte Energie (Objektbesetzung) dient der Stabilität des imaginiertes Symbols Ich. Unmittelbare Evidenz (ganz im stoischen Sinne) sind die Bindekräfte zwischen Ich und Wesen. Energie dient als Gattungsbegriff, darunter subsumiert ist z.B. die Liebe (auch Hass, Freude, Ekel, Sucht etc.). Die Liebe zieht weitere Iche an, die das eigene Imago stärkt. In diesem Fall ist monogames Verhalten kein exklusives Verhalten. Es erklärt sich hier zum Beispiel auch die für den narzisstischen Charakter besondere Eifersucht. Die Liebe des Narzissten ist selbstbezogen. Womit die Liebesenergie um das eigene Ich kreist und jedes andere Ich die Bindekraft zum Wesen irritiert.
Wenn Erlösung und Schöpfung sich trennen, stirbt die Religion, schrieb Thomas Mann einmal ganz im Sinne des traditionellen, dogmatischen Christentums. Man könnte hier das Ich als die Schöpfung sehen (Ursache und Wirkung zugleich). Erlösung ist im religiösen Sinn die Hoffnung darauf, dass die Menschheit von allem Negativen befreit würde. Das Ich wird somit zu einer Art Erlösungsmaschine. In der Brihad-Aranyaka-Upanishad benutzt man das Bild der Feuermühle: das untere Reibholz sei das eigene Ich, das obere die Silbe Om, der Reibstock sei die Erkenntnis. Dabei ist die Silbe „Om“ (Aum) vergleichbar mit dem christlichen Odem (Joachim Ernst Behrendt).
[1] Gedacht im Sinne von Otto Fenichel: Fenichel vertrat z. B. die Auffassung, dass bei der konversionshysterischen Form des Organerlebens die Verbindungen mit phantasierten sozialen Beziehungen erhalten bleiben
[2] Rank, Otto: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse.
[3] Stanislav Grof: Geburt, Tod und Transzendenz, Rororo vberlag
[4] Die psychologische Objektbesetzung entspricht dem sich Aneignen von Situationen, Situationsteilen, Dingen, Personen und deren Vorstellungen zum Zwecke der Befriedigung eigener Wünsche und Vorstellungen. (Am Anfang steht die Liebe („Objektbesetzung“) des Kindes zur Mutter).
[5] Das Ziel allen Lebens ist der Tod, nämlich die Reduktion aller Erregung auf Null.
[6] Aristophanes spricht von den Kugelmenschen, die zuerst da waren. Sie hatten vier Arme und vier Beine, sie waren entweder männlich-männlich, weiblich-weiblich oder männlich-weiblich zusammengesetzt. Da sie autark waren auch gegenüber den Göttern, haben die Götter sie bestraft und in der Mitte entzwei geschnitten. Seit jener Zeit sucht die jeweils eine Hälfte die andere Hälfte.
[7] Metrosexualität in modernen westlichen Gesellschaften als eine Art Pseudo-Dualität?
[8] Ist der Geburtenrückgang in mod. westlichen Gesellschaften ein Reflex auf sukzessive Auflösung des zentralen Ichbegriffs?
[9] Münchhausens Zopf, Piper 1997, S. 53
[10] Experiment am Stockholmer Karolinska Institut: Durch das gleichzeitige Berühren von echter und falscher Hand gewinnen die Probanden den Eindruck, sie hätten drei Hände.
[11]In der Scienza Nuova fasste Vico alles zusammen, was er in früheren Schriften entwickelt hatte, und führte seine Ideen weiter aus. Der scholastischen Gleichung: Verum est ens – das Sein ist die Wahrheit – stellte er seine Formel entgegen: Verum quia factum. Als wahr erkennbar ist nur das, was wir selbst gemacht habe
[12] Der Neurobiologe Gerhardt Roth zum Beispiel kommt zu dem Schluß „Der freie Wille ist nur eine nützliche Illusion.“
[13] Das Spiegelstadium (französisch le stade du miroir) bezeichnet in der Theorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan eine psychologische Entwicklungsphase des Kindes um den 6. bis 18. Lebensmonat, mit der die Entwicklung des Ichs einhergeht. Lacan versucht mit dieser Theorie eine Antwort auf die Frage zu geben, wie im Menschen Selbstbewusstsein entsteht und funktioniert.
[14] Eine der Yoga-Veden, die sich mit Erlösung von den Manas (Sinnesdingen) beschäftigt.
[15] Amrta: ein Sanskritterminus, dessen wörtliche Bedeutung Todlosigkeit ist, gewöhnlich wird er mit Unsterblichkeit übersetzt, amrta wurde zuerst als flüssige Substanz gedacht, später als Todlosigkeit im religiösen Sinne, nämlich als das, was jenseits des Bereichs von körperhaftem Leben oder Tod sich befindet.
[16] Depersonalisationserleben liegt vor, wenn Betroffene das Gefühl haben: „Ich bin nicht mehr ich selbst“. Hierbei kann es vorkommen, dass die Kranken ihren Körper oder ihre Bewegungen so erleben, als ob sie sich von außen selbst zusehen würden. Außerdem können sie das Gefühl haben, als seien ihr Körper oder Teile ihres Körpers vergrößert oder verkleinert, verformt, schwerer oder leichter geworden. Es handelt sich um eine Störung des Einheitserlebens der Person im Augenblick oder der Identität in der Zeit des Lebenslaufes. Der Kranke kann sich selbst unwirklich, verändert, fremd und/oder uneinheitlich vorkommen.
[17] Hegemonikón (gr. hêgemonikon) d.h. Herrschendes, nannten die Stoiker das edelste Vermögen der Seele, welches die verschiedenen Seelenvermögen zur Einheit zusammenschließt und dem die Vorstellungen, Begehrungen und der Verstand entstammen (Diog. Laert. VII, § 169 hêgemonikon de einai to kyriôtaton tês psychês, en hô hai phantasiai kai hai hormai gignontai, kai hothen ho logos anapempetai). Die Seele hat nach ihrer Lehre acht Teile, die fünf Sinne, das Sprachvermögen, die Zeugungskraft und das Hegemonikon, auch dianoêtikon genannt, dessen Sitz im Herzen ist. (Diog. Laert. VII, § 110.)
Bernhard Horwatitsch Der Münchner Autor und Dozent schreibt seit vielen Jahren für deutsche und österreichische Literaturzeitschriften. Seit 2004 gibt er Kurse in „kreativem Schreiben“ und „Literaturgeschichte“ an der Münchner Volkshochschule und dem Münchner Bildungswerk. Gemeinsam mit Arwed Vogel arbeitet er seit 2008 als Dozent und Coach für das „freie Literaturprojekt“ (www.literaturprojekt.com). „Schreibt seit vielen Jahren dies und das und wird es auch weiter tun. Warum er das tut, hat er längst vergessen.“
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