Von Thyra Thorn – Gesellschaft

Moralmaschine
Mitschrift des Interviews im West-Süd-Rundfunks mit der Mutter von Susanne Hirtler: „Sozialwissenschaften heute und morgen – Verleihung des Zukunftspreises.“
Gesendet am 12.3.2025, 17 Uhr – 17 Uhr 30
Reporter Reiner Wusenbeck: „Sehr geehrte Frau Hirtler. Ihrer Tochter Susanne wird der erste Preis des Forschungskollegs „Zukunft menschlich gestalten“ (FoKoS) für ihre Weiterentwicklung der „Moralmaschine“ verliehen. Sie forscht am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Wir freuen uns, dass sie uns ein wenig über die Person Susanne Hirtler erzählen wollen. Ihre Tochter ist bisher wenig öffentlich in Erscheinung getreten und wir möchten uns gern ein Bild über d e n Menschen machen, der vermutlich das Zusammenwirken von menschlicher und künstlicher Intelligenz maßgeblich mitgestalten wird.“
Frau Hirtler: „Ja. Hallo, guten Tag.“
Wusenbeck: „Wir haben uns im Vorfeld über Susannes Kindheit unterhalten. Die Sache mit dem Weihnachtsmann fand ich sehr interessant.“
Frau Hirtler: „Ja, achso, ja, also gut, wenn Sie das wissen wollen. Ähm, Susanne war sieben. Wir saßen beim Weihnachtsessen mit der ganzen Familie, auch Tante Erna, Onkel Erich und die Oma. Da sagt doch die Kleine glatt, dass sie es einfach nicht gut findet, wie wir sie belogen hätten. Und dass man das nicht tut, erst recht nicht zu Weihnachten, so kleine Kinder betrügen. Wissen Sie, da waren wir ganz schön baff.“
(Pause)
„Die Oma hat dann gleich gemeint, wieso Susanne sich traut, so zu reden? Das hätte es früher nicht gegeben, dass die Kinder beim Essen sprechen dürften, und der Onkel Erich hat ihr gleich zugestimmt, obwohl er es war, der bei uns früher immer dazwischen geredet hat, mit vollem Mund oder nicht, das war dem völlig egal, und der Opa hat ihm immer eins draufgehauen, nicht fest, aber das war ja früher so, aber da war der Onkel Erich nur ganz kurz still und Tante Erna …“
Wusenbeck: „Ja, natürlich, Frau Hirtler, es gibt ja immer ganz bestimmte Vorstellungen davon, was man bei Tisch tun darf oder nicht. Das hat übrigens sehr viel mit Kultur zu tun. Schon Norbert Elias hat das in seinem großartigen Werk über den „Prozeß der Zivilisation“ beschrie…“.
Frau Hirtler: „Was? Was? Also hören Sie mal. Wir sind sehr zivilisiert, bei uns geht es ja nicht zu wie bei den Hottentotten oder den Affen.“
Wusenbeck: „Ähm ja, natürlich nicht. Das wollte ich damit nicht sagen, ähm.“
(Pause)
„Wie ging es denn mit Susanne weiter?“
Frau Hirtler: „Sie hat immer nur gesagt, dass wir alle Lügner wären und sie einem Erwachsenen n i e w i e d e r etwas glauben werde. Dabei wissen Sie es doch sicher auch: Es war schon i m m e r so, dass man den Kindern vom Weihnachtsmann erzählt hat und die haben so getan, als würden sie das glauben. Das ist eben Tradition. Aber Susanne hat sich einfach nicht besänftigen lassen und uns das ganze Essen mit ihrem Gequengel verdorben.“
Wusenbeck: „Haben Sie sich danach wieder vertragen?“
Frau Hirtler: „Nein, in der Sache nicht. Die Lüge mit dem Weihnachtsmann hat sie uns nie verziehen.“
(holt tief Luft)
„Aber Susanne war ja insgesamt ein wirklich schwieriges Kind. Alles was man tat, musste man genau begründen, und nur wenn sie es eingesehen hat, hat sie auch gefolgt. Wir mussten deswegen oft in die Schulsprechstunde.“
Wusenbeck: „Weswegen genau? Was haben die Lehrer kritisiert?“
Frau Hirtler: „Ach, das war ganz verschieden. Aber grundsätzlich haben sie gemeint, dass Susanne ein Problem mit Autoritäten hätte. Sie würde immer alles hinterfragen.“
Wusenbeck: „Das ist doch eigentlich gut!“
Frau Hirtler: „Nicht, wenn eine elfjährige Göre dem Lehrer erklärt, dass jedes Kind seinen eigenen Weg zur Mathematik finden und ein guter Pädagoge auf viele Arten nachdenken können müsste und nicht nur auf eine einzige. Und dass er den Schülern nicht die Freude am Rechnen versauen dürfe.“
Wusenbeck (lacht): „Verstehe, und noch dazu hat sie damit recht.“
Frau Hirtler: „Aber sowas sagt man nicht. Wenn eine elf ist, hat sie einfach n i c h t recht. Dann ist sie nur vorlaut und respektlos. Es ist ja schließlich so, dass die Erwachsenen es gut mit den Kindern meinen …“
Wusenbeck: „Und Kinder daher Befehle und Anweisungen befolgen müssen, ohne sie in Frage zu stellen?“
Frau Hirtler: „Natürlich. So gehört sich das.“
Wusenbeck: „Was hat Susanne dazu gesagt?“
Frau Hirtler: „Susanne hat gesagt, dass hinter den ganzen Regeln und Gesetzen immer nur die Mächtigen stecken. Da wäre einfach nur wichtig, wer wen schurigeln dürfe.“
(Pause)
„Dabei weiß j e d e r, dass zum Beispiel die Zehn Gebote von Gott und eben n i c h t von den Menschen kommen.“
Wusenbeck: „Ah ja. Wie hält es Susanne eigentlich mit der Religion?“
Frau Hirtler (seufzt): „Sie sagte, dass wäre genauso wie mit dem Weihnachtsmann.“
Wusenbeck: „Gott ist also auch eine Lüge?“
Frau Hirtler: „Ja, und alles drumherum auch. Es ist einfach schrecklich: Die Oma hat geweint, wie sie das gehört hat, und Onkel Erich hat gesagt, man solle ihr eines hinter die Löffel geben.“
Wusenbeck: „Warum?“
Frau Hirtler: „Das fragen Sie? Wenn es kein Gut und Böse, keinen Himmel und keine Hölle gäbe, würden die Menschen ja tun, was sie wollen.“
Wusenbeck: „Glauben Sie, dass ihre Tochter deshalb heute an der Moralmaschine arbeitet?“
Frau Hirtler:“ Was hat das damit zu tun?“
(Pause)

„Wollen Sie etwa andeuten, dass meine Tochter mit der Maschine Gott ersetzen will? Ist es das, was Sie meinen?“
Wusenbeck: „Nein, natürlich nicht. Wie kommen Sie darauf? Das wäre ja Blasphemie.“
(leise): „Obwohl es ein interessanter Aspekt ist.“
Frau Hirtler: „Aber völlig unangemessen! Das hat mit Gott nichts zu tun. Die Moralmaschine ist auch keine richtige Maschine, sie wertet nur Antworten aus. Meine Tochter fragt viele Menschen nach ihrer Meinung, weil sie herausbekommen möchte, ob es eine Art Weltmoral gibt, nach der man einen Computer mit künstlicher Intelligenz programmieren kann. Das wäre zum Beispiel für selbstfahrende Autos im Straßenverkehr sehr wichtig, die müssen ja manchmal sehr schnelle Entscheidungen treffen.“
Wusenbeck: „Welche zum Beispiel?“
Frau Hirtler: „Ob sie eine alte Frau oder ein Kleinkind überfahren, drei Katzen oder einen alten Mann.“
Wusenbeck: „Das ist ja auch eine wirtschaftliche Frage. Die Menschen müssen die Entscheidungen des Autos akzeptieren, sonst kaufen sie es nicht.“
Frau Hirtler: „Aber sehen Sie, das Komische an der Sache ist, dass es so große Unterschiede gibt. Susanne hat erzählt, dass die Leute bei uns eher die Alte überfahren würden und die in China eher das Kleinkind.“
(Pause)
„Also müsste man ja in einen Dongfeng ein anderes Moralprogramm einbauen, als in einen Mercedes.“
Wusenbeck: „Ähm ja.“
Frau Hirtler: „Und dann gibt´s einen Unterschied zwischen dem, was man so denkt und dem, was man sagen darf. Offiziell heißt es, dass es niemals auf die Anzahl der Menschen ankommen dürfe, die man umfährt. Einer wäre genauso viel wert wie zwanzig. In Wirklichkeit sehen die Leute das aber anders.“
Wusenbeck: „Die Befragung ist anonym?“
Frau Hirtler: „Ja, dann lügen die Leute weniger.“
(Pause)
„Obwohl man ja nie weiß, ob man lügen soll oder nicht.“
Wusenbeck: „Was meinen Sie?“
Frau Hirtler: „Unsere Susanne hat ja ganz generell das Lügen verabscheut. Die hat immer, immer, immer die Wahrheit gesagt, egal, ob es den Leuten gepasst hat oder nicht.“
Wusenbeck: „Das kann sicherlich irritieren.“
Frau Hirtler: „Man gewöhnt sich daran, es hat seine Vorteile.
In der Schule haben sie das damals aber nicht so gesehen. Wir wurden zu Susannes Biologielehrer in die Sprechstunde gerufen und er hielt uns einen zehnminütigen Vortrag über Primaten. Er sagte, dass jedes Individuum in einer sozialen Gruppe ab und an lügen
m ü s s e. Das gehöre sich so, – sogar bei den Affen -, und das wäre der Kitt, der alles zusammenhielte.“
Wusenbeck: „Und wenn einer partout nicht lügen will?“
Frau Hirtler: „Dann wäre er amoralisch.“
Wusenbeck: „Wir danken Ihnen für das Gespräch.“

Thyra Thorn ist Ethnologin (M.A.), bildende Künstlerin und Autorin, seit 2016 Mitglied im deutschen Schriftstellerverband. Sie schreibt für österreichische, deutsche und schweizerische Literaturzeitschriften und Kulturjournale. Ihr neuester Roman: „Luxus?“ ist im April 2022 im PänK Verlag herausgekommen.

Weitere Beiträge von Thyra Thorn auf ZeitenGeist lesen.
Dir gefällt die Art des Ausdrucks, Journalismus, das Medium ZeitenGeist und Du möchtest gerne regelmäßig mehr davon? Du möchtest mehr über ZeitenGeist wissen, auch ZeitenGeist fördern? Wenn ja, schau in:
Über ZeitenGeist HIER
Kommentar verfassen