Wolf Hamm – Gesellschaft
Das Verstummen oder
„Der „Spiegel“ schreibt …!“

Irgendwann hatte ich es satt. In Diskussionen hörte ich immer wieder sagen: „Der „Spiegel“ schreibt“ oder „Die FAZ, SZ, Berliner Zeitung … berichtet.“ Meinen einundachtzig Jahren angemessen, stelle ich mir mit alterskindlichem Gemüte vor, wie dem „Spiegel“ aus den Heftseiten Hände und Kopf wachsen, die die Artikel nur so herunterschreiben.
Sicherlich eine kindische Verhaltensweise für einen alten Mann. Jedes Kind weiß, dass nicht die Zeitschrift, sondern ein Reporter schreibt. Dieser scheut sich, sein „Ich“ sichtbar werden zu lassen. Er schreibt in der Form eines Wirklichkeitsberichts, eines Menschen, der dabei gewesen ist.
Fehlendes Ich, Berichtsform und Wahrheitsanspruch wiegen den Leser in den Traumzustand, dass er Bescheid wüsste und den wirklichen Durchblick hätte. mit dem er alle Ereignisse wirklichkeitsgetreu bewerten könne.
Warum schreibt der Reporter nicht „Ich“? Erstens ist seine Befindlichkeit nicht für jeden Leser wichtig. Zweitens glaubt man Institutionen als Objektivierung des Subjektiven mehr als einem Individuum. So wird die Zeitung oder Zeitschrift mit dem Satz oder ähnlichen Formulierungen als letztgültiger Beweis für die Wahrheit einer Angelegenheit angerufen. „Der „Spiegel“ schreibt … In der FAZ steht es doch, dass …“
Wenn der „Spiegel“ das schreibt, dann ist es auch richtig.
So eine gängige Überzeugung. Korrekt müsste man eigentlich vermerken: „Ein Redakteur oder Reporter des „Spiegel“ schreibt…“ Worin liegt der Unterschied?
Der Institution vertrauen manche Leute mehr als einer einzigen Person. Die Institution scheint gewisse Einflüsse, denen eine Einzelperson unterliegen könnte, auszugleichen.
Das Schreiben einer Person unterliegt verschiedenen Beeinflussungen wie Müdigkeit, Klima, Gesundheit… So müsste man also korrekt für den Satz „Der „Spiegel“ schreibt, ausführen: „Der Reporter XY hat am Morgen um 10:00 Uhr diesen Text geschrieben, obwohl der Alkoholgenuss des letzten Abends noch seine Sinne betäubte.“ Das ist die Wirklichkeit Wir sagen aber: „Der „Spiegel“ schreibt …“ Das klingt dann schon ganz solide.
Bekommen Aber weiter: Dieser etwas lädierte Reporter schreibt „Die russische Armee hat große Verluste erlitten.“ Nachdem unser Reporter nicht auf dem Schlachtfeld war, sondern in einem Großraumbüro am Hamburger Hafen, stammt die Information von einem Mister Unbekannt bzw. vom Pressesprecher des Generals. Jedenfalls hat <<<<<<jemand anderer diese Information formuliert. Wer war das? Da Pressesprecher in der Regel das Gemeldete nicht selbst gesehen und kontrolliert hat, schreibt er den Satz: „Die russische Armee hat große Verluste erlitten“ so, wie ihn sein General empfangen hat. Wir nähern uns allmählich dem Menschen, der den Inhalt des Satzes mit seinen Sinnen erlebt hat. Aber schon bei Übertragung des Erlebten in Sprache entstehen Verwerfungen. Der oder die Tatzeugen formulieren nicht ganz frei von adressatenbezogenen Überlegungen: Will jemand vom General mehr Unterstützung bekommen, malt er die Situation schwarz. Will er befördert werden, schreibt er „geringe Verluste“. Und so setzt sich die Modifikation der Wirklichkeit fort, bis sie bei mir ankommt.
Und ich diskutiere im Freundeskreis eifrig mit, so, wie es die Damen und Herren in Talkschows auch tun.
Allerdings bin ich als Diskussionskiller berüchtigt. Denn wenn jemand behauptet, die russische Armee habe hohe Verluste erlitten, frage ich: „Woher weißt du das?“
Antwort. „Der „Spiegel“ schreibt —“


Wolf Hamm
Wolfgang Hammer (Pseudonym Wolf Hamm); geboren 1946 In Oberaudorf; Gymnasiallehrerausbildung für Deutsch und Geschichte; Lehrer an Gymnasien in Flensburg, Kopenhagen und an der Universität in Kiel; von 1992 bis 2011 Leiter der Lehrerausbildung in Rostock. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Pädagogik und Geschichtsunterricht. Mehrere Romane und zahlreiche Geschichten; wohnt seit zehn Jahren in Mitterfels.
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