Von Bernhard Horwatitsch – Kultur – Gesellschaft

Eine kleine Genealogie des Bösen
„An den meisten Orten werden die meisten Straftaten von Wesen verübt“ (Jean Renard an Drew Wu / Grimm Staffel 5/1)
Die moderne Psychologie bezeichnet das Böse als “dämonischen Menschen“, und spricht von der so genannten „Dunklen Triade“, die sich aus Narzissmus, Psychopathie und Macchiavellismus zusammen setzt.
Narzisstische Menschen sind –vereinfacht gesagt – sehr bedürftig nach Applaus und zugleich höchst empfindlich. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht bei ihnen eine Kluft, wodurch sie leicht zu kränken sind. Die Suizidrate ist bei narzisstisch gestörten Persönlichkeiten am Höchsten. Sie sind also eher selbstgefährdend als fremdgefährdend. Psychopathen sind Menschen, die nicht in der Lage sind die Gefühle anderer Menschen zu verstehen oder nachzuempfinden. Ist jemand nur ein Psychopath raubt er keine Bank aus, sondern sitzt im Bankvorstand. Und machiavellistische Menschen haben ein hohes Bedürfnis nach Macht und danach Menschen zu manipulieren. Für sich genommen können solche Menschen auch gute Führungskräfte sein.
Nur zusammen genommen ergeben sie als die „dunkle Triade“ den dämonischen Menschen. Wer fällt Ihnen dazu ein? Und vor einiger Zeit fiel fast nur noch ein einziger Name. Übrigens quer durch alle Bildungsschichten. Donald Trump.
Der Eindruck der Psychologen ist also, dass sie wissen, was das Böse sei. Die Darstellung der Psychologen reduziert das Böse auf ein krankes Verhalten. Diese Defizit-Theorie des Bösen impliziert, dass die Weltprobleme schnell gelöst wären, wenn Donald Trump nur die richtigen Medikamente schlucken würde. Tatsächlich aber beschäftigt sich die Menschheit schon sehr, sehr lange mit dem Phänomen des Bösen.
Die Religionen
Ein Unterschied zwischen christlichem und muslimischem Denken liegt in der unterschiedlichen Bewertung des Bösen. Für das christliche Verständnis ist hier Paulus zuständig und seine Briefe. Im fünften Römerbrief schreibt Paulus: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ Das Böse ist in uns alle eingedrungen. In seinem ersten Korintherbrief schreibt Paulus: „Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde ist das Gesetz.“ Paulus denkt hier wie ein Anarchist. Es liegt an den Gesetzen, dass es überhaupt zur Übertretung kommen kann. Ohne Gesetze gibt es keine Übertretung. Christus wird die Gesetze überwinden, allen voran das Gesetz unserer Sterblichkeit. Das Böse ist in uns und dazu benötigt man Gesetze. Da es Gesetze gibt, ist das Böse in uns. Jedes Verbot lockt uns. Und es ängstigt uns.
Für einen Moslem sind gute Taten sehr wohl hilfreich und es gilt dem Bösen zu widerstehen. Auch im Islam gab es den Sündenfall. Aber hier war der Teufel der Verführer und im Koran kündigt der Teufel an, alle Menschen zu verführen mit Ausnahme derer, die Gott dienen. Das Böse drang nicht in alle Menschen ein, wie im Christentum. In der 114. Sure wird der Mensch aufgefordert, sich vorzusehen, dass ihm von außen, sei es durch andere Menschen oder durch einen Dämon (Dschinn) keine böse Gedanken eingeflüstert würden. Zwar verlangt die menschliche Seele nach dem Bösen, aber wir haben es in unserer Hand und können durch gute Taten die Sünden ausgleichen. Daher werden in der islamischen Rechtsprechung empfehlenswerte Handlungen (mandub) ausdrücklich gelobt.
Ich selbst bin nun 58 Jahre alt und noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Wenigstens ein Fresskorb vom Bürgermeister meiner Stadt wäre doch mal drin. Aber das christliche Abendland besteht nur aus Sündern.
Christen verstehen sich grundsätzlich als böse und warten auf die Erlösung. Der Moslem tut dies nicht. Während Platon sich nicht vorstellen konnte, dass jemand vernünftigerweise etwas anderes als das Gute wollen könnte, es also nur an unserer Unvernunft und unserer Verwirrtheit liegen kann, wenn wir vom Guten abweichen, sieht das Augustinus von Hippo anders. Nach Augustinus sündigt der Mensch notwendigerweise, aus seinem freien Willen heraus. Non peccare peccatum est. Der böse Mensch ist nicht verwirrt, sondern unterliegt geradezu seinem Gebrauch des Willens, wie er die verschiedenen Gegenstände benutzt und somit hat der Mensch zwar einen freien Willen, aber dieser korrumpiert stets den Geist. Bei Augustinus ist der Wille reflexiv und ich kann mich als Mensch gegen diesen Willen entscheiden für das allgemeine Gut (die unwandelbaren Tugenden). Damit wird das Böse privatisiert. Das Böse ist bei Augustinus immer im Menschen und nie öffentlich als etwas zugegen.
Der Islam sieht es als öffentliche Aufgabe gegen das Böse vorzugehen, wenngleich auch hier die griechische Philosophie ihren Einfluss ausübte auf al-Farabi oder auch Ibn Rushd, die dem Bösen keinen eigenen ontologischen Status zuerkannten, da sie vom Neuplatonismus und von Aristoteles beeinflusst waren.
Bei Thomas von Aquin bleibt das Böse eine Frage des Willens des Menschen. Das Böse darf nicht von Gott kommen, das widerspräche Gott. Es darf auch keine selbstständige böse Kraft geben, denn auch das widerspräche der göttlichen Allmacht und führte in einen manichäischen Dualismus. Aber Aquin hat als guter Aristoteliker das Vermögen des menschlichen Willens ins Spiel gebracht. Aquin ist sogar noch in unserer modernen Rechtspraxis sichtbar. In einer Notwehrsituation wird von einem ausgebildeten Polizeibeamten ein besseres Handeln verlangt, als von einer durch die extreme Situation überforderten Privatperson. Auch bei einem medizinischen Notfall kann man von einem ausgebildeten Arzt größere Kompetenz erwarten, als von einem medizinischen Laien. Die aristotelische Hexis relativiert das böse Handeln und macht es zu einem Phänomen des Mangels. Der freie Wille bleibt erhalten, aber ich kann das Gute wollen und das Böse wählen, weil ich es nicht besser verstehe, mich täuschen lasse, geblendet bin. Dabei ist das Böse nichts absichtliches, hat keine eigene Wirkkausalität. Das Problem bleibt bestehen: Handelt der Mensch nur böse, weil es ihm an Vernunft mangelt oder gibt es ein rationales Motiv für das Böse? Wenn es kein rationales Motiv für das Böse gibt, dann könnten wir durch Bildung, Erziehung und einer allgemeinen sozialen Anstrengung das Böse weitestgehend eindämmen. Zudem wäre der unwissend böse Handelnde nicht im Sinne des Gesetzes zu belangen. Im deutschen Strafrecht §17 StGB nennt sich das „Verbotsirrtum“. Auch bleibt der Widerspruch meines freien Willens. Denn die Abhängigkeit meiner Willensentscheidung von der Vernunft macht mich zu einem rationalen Wesen, das eigentlich nur das Gute wollen kann. Das Böse ist damit immer irrational und widervernünftig.
Das Böse wird angeleuchtet
Der englische Frühaufklärer Thomas Hobbes sieht den Menschen als grundsätzlich eigennützig und jeder Einzelne konkurriert mit dem anderen um Ressourcen. Jeder kämpft gegen jeden. Bis heute summieren sich die ganzen Spieltheoretiker um den rationalen Eigennutz des Menschen. Der Mensch muss als soziales Wesen gezähmt werden. Dafür schließt er einen Vertrag und überträgt seine Rechte an eine andere Instanz. So wird der Mensch vom mächtigen Leviathan kontrolliert und gezähmt. Wie jedoch der grundsätzlich eigennützige Mensch auf die Idee kommen sollte, sich selbst derart zu beschränken, das bleibt offen. Jean Jacque Rousseau hat Thomas Hobbes Vorschlag daher umgekehrt und festgestellt, alles Böse käme von diesem Vernunftzustand. Gerade die Vernunft erzeugt doch unsere Eigenliebe. In gewisser Hinsicht steckt ein halber Paulus in diesem französischen Gefühlsdenker. Denn Zäune und Gesetze verhindern, dass wir unseren Naturzustand behalten in dem wir natürlich gut sind.

Endlich kommt Leibniz, der uns mit seiner Aussage dies sei die beste aller möglichen Welten beruhigt. Allerdings antwortete so mancher Pessimist: „Ich fürchte, Leibniz hat Recht.“ Man muss die Welt als Ganzes sehen, denn so hat sie Gott entworfen. Zwar könne man sich eine Welt ohne Sünden und ohne Übel vorstellen. Aber sie wäre unvollkommen. Der Reiz des Bösen liegt gewissermaßen in der Natur des Ganzen. Göttliche Geschöpfe können naturgemäß nicht Gott selbst sein. Gerade in dieser Komplexität erleben wir die vollkommene Welt. Dieser metaphysische Gedanke bedeutet nicht, dass wir keinen freien Willen haben. Wir können die Welt besser machen. Aber um sie besser machen zu können, benötigen wir all die Übel auf der Welt. So sieht Leibniz in der Überwindung unserer natürlichen Trägheit diese Welt gottgefällig, denn es gibt dazu den Strom. Sein Bild ist das auf dem Wasser gleitende Schiff, das sich in seiner Trägheit entgegensetzt und vom Strom des Wassers vorangetrieben wird. Bauen wir einfach ein besseres Schiff, das eleganter auf den gottgefällig gegebenen Wasserläufen dahintreibt. Elon Musk wäre Leibnizianer.
Das Böse ist kein Lehrmeister aus Deutschland
Kant schafft erstmals die Grundlage für ein rational böses Handeln, indem er einen formalen Widerspruch zur reinen Vernunft im Menschen entdeckt, den er „vernünfteln“ nennt. Die böse Maxime versucht die eigenen Interessen über das allgemeine Sittengesetz zu stellen, es aber so darzustellen, als sei es das allgemeine Sittengesetz selbst. Diese Überordnung meiner Interessen nennt er „das liebe Selbst“ und diffamiert dies mit dem Begriff „Eigendünkel“. Der vernünftelnde Eigendünkel steht nun rational im Widerspruch zum höheren moralischen Gesetz, zu den Geboten der reinen Vernunft. Dieser vernünftelnde Eigendünkel ist kein Defekt in uns, sondern ein aktiver rationaler Wille, der in seiner Struktur dem allgemeinen Sittengesetz ähnelt, ihn aber in Wahrheit pervertiert. Hier wird das Motiv sichtbar, nicht das Gesetz zu achten, sondern das „liebe Selbst“. So ist auch seine Unterscheidung des öffentlichen und privaten Gebrauchs der eigenen Vernunft zu verstehen, die er in seiner Schrift „Was ist Aufklärung“ erörterte. Der rechte Gebrauch unserer Freiheit ist entscheidend. Denn das Böse liegt nicht in uns, sondern im Objekt der Freiheit selbst. So muss ich als Lehrer meinen Schülern die herrschenden Gesetze lehren. Als Privat- ja Weltbürger kann ich – zumal als Fachmann – sehr wohl diesen Gesetzen widersprechen. Wenn ich meine Vernunft öffentlich einsetze, genieße ich unbeschränkte Freiheit. Im Rahmen meiner Tätigkeit an einer bestimmten Schule bin ich den Leitsätzen dieser Schule verpflichtet. Als Richter muss ich mich an das herrschende Strafrecht halten. Als Weltbürger (zumal als Richter) kann ich ihnen widersprechen, bin sogar verpflichtet, dies zu tun.
Bei Kant ist das Böse weder ein Defekt in uns, noch ein Mangel an Gutsein, kann auch nicht einfach durch einen Leviathan beherrscht werden, oder verschwindet einfach, wenn wir wieder natürliche gesetzlose Wesen werden. Aber ähnlich wie Rousseau es auch sieht, haben wir in uns ein moralisches Gesetz als menschliches Geburtsrecht, ja dieses moralische Gesetz in uns macht uns erst zu Menschen. Wir haben die Freiheit dieses als gute Maxime anzuwenden und uns selbst zu beschränken durch das Sittengesetz, aber auch die Freiheit es nicht zu tun und uns selbst über das Gesetz zu stellen. Beides ist rational. Daher benötigt Freiheit Verantwortung.
Fichte ist ein wenig Kant und ein wenig Leibniz. Für ihn resultiert das böse Handeln aus einer Gedankenlosigkeit und Unaufmerksamkeit gegenüber den höheren Gesetzen in uns. Eine „Trägheit zur Reflexion“ bewirkt in uns einen „Schlendrian“. Daher gilt es, dies zu verhindern, indem wir uns darin üben, aufmerksam zu sein, es bedarf einer fortgesetzten Anstrengung, das höhere Gesetz in uns wach zu halten. Diese Gewissensübungen von Fichte übersehen allerdings, dass böse Menschen nicht faul sind, sondern sogar sehr, sehr fleißig. So benötigt der Lügner ein herausragendes Gedächtnis und übt sich darin täglich. Ein Einbrecher muss hellwach sein, seine Taten planen und gewissenhaft ausführen. Manchmal sind die trägen Menschen gute Menschen, denn es ist ihnen zu mühsam, böses zu tun. Hier warnt der katholische Katechismus, denn Faulheit ist eine Todsünde, die uns dazu bringt, Fürsorge und Barmherzigkeit zu vernachlässigen. Weder Betriebsamkeit noch Müßiggang sind ein Heilmittel gegen das Böse, gegen die Übel der Welt.
Das erkennt Schelling sehr gut. Er sieht den Menschen als eine Synthese aus Eigenwille und Universalwille. Während das Tier nicht selbstbestimmt ist, einen dunklen Eigenwillen hat, der sich im Überlebenstrieb ausdrückt, in einem Universalwillen, besitzt der Mensch einen erhellten Eigenwillen und sieht den Universalwillen nicht nur, sondern kann sich auch dieses Universalwillens bedienen. Der Mensch kann sich frei entscheiden. Schelling sieht das Böse daher als Wesen an, das sich vom gleichen Kraftpotenzial ernährt. Das Böse ist somit eine Perversion des Guten. Aber es ist nicht mangelhaft, kann sogar ausgezeichnet sein. Das Böse ist wie eine Art Tumor. Es hat einen starken erhellten Eigenwillen und bedient sich auch des Universalwillens, wie es der Mensch macht. Es führt aber in die Perversion. Es sind die gleichen Kräfte, denen sich der Tumor bedient. Da blitzt jedoch ein Dualismus auf, der den Gedanken des „Ausmerzens“ impliziert. Aber Schelling weiß zwar, dass wir Menschen uns erst auf das Licht zu bewegen und noch nicht erhellt genug sind, um den Heilsplan des Universalwillens zu erkennen. Dennoch sehe ich hier die Gefahr durch das grundsätzlich Kompetitive in diesem Denken. Zumal sich das Böse ebenfalls für den Heilsplan halten kann. Es gibt eine Begeisterung für das Böse und keine Anleitung, es sofort zu erkennen.
Hegel sieht den Menschen in seiner Abstraktheit als böse. Wobei man immer daran denken muss, dass Hegel die Begriffe vom Begriff her denkt. Abstrakt ist das vom Allgemeinen Abgezogene, während das Allgemeine konkret ist, als zusammengefügtes, als Synthese. Da der Mensch nach Hegel vom Begriff her Bewusstsein ist, das sich in seiner Vernunfttätigkeit ausdrückt, das eine vom anderen zu unterscheiden, ist das Böse die positive Negativität. Das Vernunftwesen Mensch ist hier böse, nicht das Naturwesen. Denn das Vernunftwesen bringt sich nicht auf den allgemeinen (und damit konkreten) Begriff, wenn er seine Natur der Vernunft vorzieht. Die Entzweiung in gut und böse ist ein Vernunftakt und, bezogen auf Hegels Geschichtsphilosophie, ein Zustand in dem Gegenstand und Begriff keine Einheit bilden. Gut und Böse wären im absoluten Geist als endgültiger geschichtsloser Weltzustand wieder eins. Also ist das Böse ein Zustand der Entfremdung.
Während Leibniz diese Welt noch für die beste hielt, hält sie Schopenhauer für die schlechteste aller möglichen Welten, denn das Übel, das Leid ist ihr geradezu eingeschrieben. Dass wir Mangel erleiden, Wünsche unerfüllt bleiben, Schmerz ertragen müssen, niemals eine dauerhafte Befriedigung oder Beglückung erleben, das ist der Zustand der Welt als Wille und Vorstellung. Dieses lächerlich kleine Individuum macht sich zum „Mittelpunkt der Welt“, berücksichtigt in erster Linie „seine eigene Existenz“ und wäre sogar „bereit die Welt zu vernichten, um nur sein eigenes Selbst, diesen Tropfen im Meer, etwas länger zu erhalten“. Damit sind wir wieder bei Thomas Hobbes gelandet und einem grundlegenden Pessimismus. Wenn man mit dem Zeitraffer über die Geschichte der Menschheit fährt, übersieht man die kleinen Inseln echten Glücks. Aber vielleicht macht das gerade die Hölle dieses Daseins aus, dass sie nicht nur böse ist, oder – nach Leibniz – nicht nur gut. Eine Weltdiagnose allein ist trotzdem nicht hilfreich. Daher empfiehlt uns Schopenhauer die Abkehr von der Welt durch Kontemplation. Die Eindämmung meines Willens ist bei Schopenhauer eine Abwendung von der Natur des Weltwillens. Es ist eine passive Opposition, eine Art Sitzstreik. Mit dem Lotussitz First Class ins Nirwana. Daher ist Schopenhauer auch ein starker Fürsprecher des Suizids. Er kennt nur eine moralische Grenze des Selbstmords, nämlich dann, wenn man es aus Willensgründen macht, weil man eigentlich ein besseres Leben will. Es gibt hier kein besseres Leben. Vereinfacht: Alles ist scheiße, nichts ist hier gut. Es gibt auch keinen Grund zur Hoffnung. Bias von Priene – einer der sieben Weisen Griechenlands – sagte schon vor über zweieinhalbtausend Jahren: Die meisten Menschen sind schlecht. Das Beste wäre, nie geboren worden zu sein. Das Zweitbeste wäre, früh zu sterben.

Für Kierkegaard folgt die Sünde einer ganz anderen Logik. Sie lässt sich nicht mit positiven oder negativen Werten einfach aufaddieren. Sie ist mehr eine eingenommene Position (damit positiv und pervertierend). „Bedeutet die Sünde, dass man das Richtige nicht kennt, so dass man deshalb das Falsche tut, so existiert die Sünde nicht.“ Im Gegenteil kennt der Sünder sehr wohl seine Sünde. Der böse Mensch ist ein dämonischer Mensch, der in seinem Verhältnis zu sich selbst schwach oder trotzig ist. Der böse Mensch verfügt über die Erkenntnis des Guten. Eine gewisse Zeit hält er dieser Erkenntnis stand. Der Wille hat jedoch nichts dagegen, dass das Böse geschieht. Irgendwann verdunkelt sich die Erkenntnis und kommt mit dem Willen überein. Bei Kierkegaard ist es keine Vernunftfrage. Denn es kann kaum möglich sein, wider der Vernunft Böses zu tun und wenn man gar keine Erkenntnis hat, ist es nicht böse. Sonst müssten wir auch Tiere zum moralischen Subjekt erheben. Also liegt es am Willen. Entweder wir verzweifeln an den Geboten oder wir widersetzen uns den Geboten trotzig. Und da der Wille konsequent ist, ist das Sündhafte auch total. Es gibt also nicht die kleinen oder großen Sünden. Es ist immer eine totale Entscheidung und ein Bruch mit den Geboten.
Nietzsche ermittelt in seiner Genealogie einen moralischen Verfall. Vom einst aristokratischen Begriff des Guten als tauglich, gut gewachsen, schön, glitt die Moral ab in einem Sklavenaufstand. Die jüdisch-christliche Tradition machte den Elenden, die Armen und die Obdachlosen, die Verlierer, die Leidenden zu den Guten und verdammte die Starken als böse. Nietzsche nannte das „Ressentiment“. Der moralische Mensch ist von diesem Ressentiment zerfressen, weil er nicht mehr zu sich selbst „ja“ sagen kann. Die Moral der Gedemütigten und Erniedrigten ist somit eine Moral der verletzten Empfindungen. Nietzsche instrumentalisiert diesen psychologischen Befund und verstellt damit einen objektiven Blick auf die eigentliche Fragestellung. Denn die bloße Umkehrung von gut in böse und böse in gut als Verfallsgeschichte, klärt nicht wirklich den Ursprung des Bösen.
Hannah Arendt diagnostiziert eine besondere Form des Bösen im 20. Jahrhundert hervorgebracht durch die totalitären Herrschaftssysteme. Durch die Anonymität des Menschen existiert im Grunde kein Subjekt des Bösen mehr, das es hervorbringen könnte. Das Böse im 20. Jahrhundert ist nicht mehr radikal. Es hat keine Wurzeln, keine Grenzen und kann sich so extrem über die Welt ausbreiten. Ihre Vorstellung der Banalität ist nicht wie bei Kant eine innere Zerrissenheit zwischen dem moralischen Gesetz in mir und meinem Eigendünkel, sondern bloße Gedankenlosigkeit. Das Böse wurde von niemandem getan, sondern von menschlichen Wesen, die sich weigern Personen zu sein. Der Befehlsempfänger Eichmann tat nur, was in seiner Funktion jeder getan hätte. Die Perversion der Banalität des Bösen liegt gerade in seiner Identitätslosigkeit. Das total beherrschte Individuum reduziert sich auf ein Rädchen im totalitären System. Dieser Mangel an Innerlichkeit und Subjektivität radiert das Böse weg. Der Mangel an Radikalität macht das Böse extrem und gewissenlos.
Ist Trump jetzt böse oder nicht?
Kommen wir zurück zum Beginn des Textes und betrachten uns noch einmal Donald Trump. So erkennen wir die Widersprüchlichkeit in der medialen Darstellung. Einmal wurde er als verrückt dargestellt. Das hieße aber, dass er nicht böse sein kann, sondern einfach nur dumm und defizitär. Dann wieder hieß es, er wüsste genau was er tut. Dann kann er nicht krank sein im Sinne der Psychologie, sondern handelt rational. Genau das spricht ihm die Presse oft wieder ab. Betrachtet man ihn mit den Augen von Hannah Arendt, dann ist er ein Rädchen in der Maschine und er könnte das Rädchen sein, das diese Maschine zerlegt. Als Rädchen selbst ist Trump nicht mehr als ein gewiefter Geschäftsmann mit Ambitionen, der geschickt die Medien bedient. In der politischen Maschine Washingtons ist der ehemalige Immobilienhändler und Unterhaltungskünstler das falsche Rädchen. Das wäre dann wiederum eine Perversion des Guten. Trump reduziert unsere Existenz auf einen allgemeinen Konkurrenzkampf in dem jeder sich selbst der nächste ist und belebte das AFC (Amerika first Comitee) wieder, das 1940 gegründet wurde und ein Sammelbecken für Kriegsgegner war die nicht gegen, sondern für Hitler eintraten. Ist (war?) Trump ein Instrument mächtiger Hintermänner, denen er über den Kopf wächst (wuchs)? Oder ist er ein Irrer, dem das Amt über den Kopf wuchs? Vielleicht wissen wir es irgendwann

Bernhard Horwatitsch
„Schreibt seit vielen Jahren dies und das und wird es auch weiter tun. Warum er das tut, hat er längst vergessen.“
Der Münchner Autor und Dozent schreibt seit vielen Jahren für deutsche und österreichische Literaturzeitschriften. Seit 2004 gibt er Kurse in „kreativem Schreiben“ und „Literaturgeschichte“ an der Münchner Volkshochschule und dem Münchner Bildungswerk. Gemeinsam mit Arwed Vogel arbeitet er seit 2008 als Dozent und Coach für das „freie Literaturprojekt“ (www.literaturprojekt.com).

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