ZeitenGeist

Magazin für Kultur, Gesellschaft und Bewusstsein


Vergeben und vergessen?

Klaus Enser-Schlag – Gesellschaft – Kultur

Vergeben und vergessen?

„Vergebung ist die Überwindung von negativen Gefühlen und Einstellungen gegenüber einer Person, die uns verletzt hat.“

(Wikipedia)

Momentan lesen wir viel vom Verzeihen und vom Vergeben. Es gibt Aufklärungs- und Aufarbeitungsbedarf. Zugleich stellt sich die Frage, wie der einzelne Mensch, besonders, wenn er in den letzten drei Jahren zu einer öffentlich an den Pranger gestellten Minderheit zählte, dies kann oder überhaupt möchte. 

Das Verzeihen ist für den einzelnen sicherlich sehr wichtig, keine Frage. Denn wer dies nicht vermag, wird sich im schlimmsten Falle sein Leben lang mit negativen Gefühlen und Bitterkeit quälen. Er stilisiert sich immer wieder als Opfer, welches durch das permanente Wiederholen seiner Leidensgeschichte nicht selten die Nerven seiner Mitmenschen strapaziert und seine eigene Lebensqualität erheblich beeinträchtigt. 

Entscheidend für den Willen zur Vergebung ist auch das jeweilige Motiv des „Täters“. Wenn mich jemand mit Vorsatz benachteiligt hat, wird mir das Verzeihen viel schwerer fallen, als wenn es aus Unachtsamkeit oder aus Versehen geschah. Hinzu kommt auch der psychologische Effekt einer „Verletzung“. Menschen, die mir sehr nahe stehen, können mich mit einer bösen Bemerkung mit Sicherheit mehr verletzen, als wenn mir z. B. ein unbekannter Mensch ein Schimpfwort hinterherruft. Die Grade der Verletzungen sind die gleichen, nur messe ich ihnen eine verschiedene Bedeutung bei. Ich entscheide also instinktiv selbst, von wem ich mich verletzt fühle, oder wer mich einfach kalt lässt.

Genauso kommt es darauf an, wie ich eine Lebenskrise beurteile. Sehe ich nur die Nachteile, oder hat sich daraus nicht auch etwas Neues (Gutes) ergeben?

Einige Bekannte haben mir erzählt, dass sich in den letzten drei Jahren in ihrem Freundeskreis die „Spreu vom Weizen“ getrennt habe. Sie haben neue Bekanntschaften geschlossen oder ihren Freundeskreis komplett ausgetauscht. Andere sind verbittert und enttäuscht und wünschen ihren ehemaligen Freunden die Pest an den Hals. 

Doch es gibt leider auch Entwicklungen, die sich nicht allein auf das Austauschen eines abtrünnigen Freundeskreises beziehen. Existenzielle Abstürze und gesundheitliche Beschwerden (physisch und psychisch) und der Verlust geliebter Menschen sind alles andere als leicht verdaulich und können noch lange das Leben der Betroffenen prägen.

Können diese Menschen so einfach verzeihen? Ich glaube, dazu bedarf es einer ehrlichen und schonungslosen Entschuldigung der Verantwortlichen, einer ebenso offenen Darlegung aller sachbezogenen Fakten mit entsprechenden Konsequenzen, sowie Entschädigungen und Rehabilitationen. Vielleicht wäre es dann für viele Menschen leichter, den Schritt zur Vergebung zu wagen. Eine menschliche Größe kann in diesen Fällen nicht ohne die andere stattfinden. 

Es wäre jedoch geradezu fatal, wenn die Erklärungen und Offenbarungen der Entscheidungsträger nur einen halbherzigen Charakter besäßen. Die Betroffenen könnten sich, zusätzlich zu ihrem Schicksal, auch noch verhöhnt fühlen, was ein Verzeihen ihrerseits wohl endgültig scheitern ließe.

Leider nehme ich aber gerade dieses Halbherzige wahr. Es äußerst sich, meinem Empfinden nach, in zaudernden und zögerlichen Äußerungen. Manche Formulierungen geraten gar in den Verdacht der Ausrede. Kann und wird auf diese Weise eine tatsächliche Versöhnung gelingen? Das Prinzip „Wasche mich, aber mach´ mich nicht nass“ wird so jedenfalls nicht funktionieren.

Es ist ein sehr zwiespältiger Weg, den viele Menschen jetzt noch vor sich haben. Auf der einen Seite sind es berechtigte Forderungen nach Anerkennung, Wiedergutmachung und ehrlicher Aufarbeitung ihrer Sorgen und Nöte. Zum Anderen besteht die Gefahr, durch das „Nicht-Vergessen-Wollen“ und „Nicht Verzeihen-Können“, sich in einen Hass hineinzusteigern, der sich emotional seine Bahn in der gleichen Weise bricht, wie sie ihn vor nicht allzu langer Zeit selbst erleben mussten…

Klaus Enser-Schlag, geboren in Stuttgart,

Hörspielautor beim Schweizer Rundfunk (SRF)

Veröffentlichung von Gedichten, Kurzgeschichten,

Songtexten, Internet-Artikeln, sowie Erzählungen

in Anthologien.

Mehr zu meiner Arbeit unter:

https://www.klaus-enser-schlag.com/

und

https://de.everybodywiki.com/Klaus_Enser-Schlag

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