Von Bernhard Horwatitsch – Kultur

Walpurgisnacht
Eine Analyse
Im nächsten Jahr (2024) wird in Bayerns Schulen Goethes Faust als Pflichtlektüre gestrichen. Aus Weimar bekam Markus Söder daher viel Kritik. Das ist verständlich. Aber auch verständlich ist es, dass ein Werk das vor über 200 Jahren verfasst wurde Platz macht für aktuellere Literatur. Unabhängig von diesem politischen Kulturstreit möchte ich eine Tiefenanalyse vorlegen zu einem Kapitel dieses Versepos. Warum? Weil Aberglaube, Bigotterie und Unwissenheit kein Vorrecht der Ungebildeten ist, sondern auch ein Phänomen der höchsten Bildungskreise ist. Und weil Goethe – nach Jeremy Adler – der Begründer der Moderne ist und in der Sattelzeit des 18. Jahrhunderts ist der Faust von Goethe eine Zäsur in unsere Zeit.
Das 367 Verse lange Kapitel aus Faust I das ich hier genauer darstelle, entstand zwischen 1797 und 1801. Goethe lieh sich zu diesem Zweck Bücher über Zauberwesen.
Es ist das nordische Gegenstück zur klassischen Walpurgisnacht, die im zweiten Akt Faust II dargestellt wird. Dort wird es dann ganz antik zugehen und Mephisto bekommt Schwierigkeiten, weil er da nicht zu Hause ist. Hier in der nordischen Walpurgisnacht ist er jedoch der „Herr vom Haus“ bei der Party. Der Chef selber ist Satan. Und wenn der Chef zu Besuch ist, geht es um die Karriere. Mephisto und Faust sind auf der Flucht vor der Gerichtsbarkeit, da sie kurz zuvor Gretchens Bruder Valentin erdolchten.
Im originalen Faustbuch von Johannes Spieß (Volksbuch aus dem Jahr 1587) gibt es keinen solchen Hexensabbat, keine Satansmesse. Die erste Version, die Faust mit der Walpurgisnacht in Verbindung bringt, stammt von Johann Friedroch Löwen, einem Freund und Zeitgenossen Lessings. 1756 wurde das Gedicht „Die Walpurgisnacht“ veröffentlicht, die Faust erstmals dort hin bringt. Löwen hat das ganze Gedicht satirisch angewendet mit typenhaften Figuren (galante Buhlerin, Stutzer, betrügerischer Kaufmann, Höfling). Sehr möglich, dass dies Goethe mit anregte, so tritt zum Beispiel die Figur der Lilith sowohl bei Löwen, als auch bei Goethe auf.
Hexenverbrennungen
Die Walpurgisnacht, das Hexenbrennen, fand seit dem Mittelalter am 30. April statt, als ein inzwischen kommerzielles Fest in den Mai hinein. Das Walpern beginnt bereits neun Tage zuvor. Ab 1899 wurden die Touristen mit der Brockenbahn auf gut 1100 Meter Höhe hinaufgefahren, als Hexen verkleidet. Aber bereits zwei Jahre später bereitete der damalige Brockenbesitzer, der Fürst von Stolberg-Wernigerode, dem Spektakel per Dekret ein Ende. Felsformationen auf dem Brocken tragen bis heute die Namen „Hexenaltar“ und „Teufelskanzel“. Und inzwischen ist das sicher eine stabile Touristenattraktion, wenn nicht grade ein heftiger Wind bläst auf dem Brocken.
Walpurga war eine englische Benediktiner Nonne (ursprünglich aus Wessex), die in Deutschland (Heidenheim) im 8. Jahrhundert missionierte und Wunder tat und schließlich heiliggesprochen wurde. Eigentlich war dieses Fest immer schon ein nordeuropäischer und durchaus heidnischer Brauch (Maifest), das Frühjahr zu begrüßen. Dass man im 16. Jahrhundert daraus den Hexensabbat machte ist eine Stereotype, die Feindbilder bediente und mit dem Aberglauben der Leute in dieser Zeit verknüpft ist.
Eine wichtige Quelle, die auch Goethe nutzte ist natürlich auch der Malleus maleficarum, in dem die genauen Abläufe einer Satans-Messe geschildert werden. Das Wissen von diesen Abläufen bekam man vor allem durch Folter heraus. Es ist von daher interessant, ganz kurz diesen Massenwahn zu bedenken, dem in der Hexenverfolgung und Ketzerverfolgung Millionen Menschen zum Opfer fielen. Denn man muss bedenken, dass noch zu Goethes Zeiten im Ernst von Hexen die Rede war. In Goethes Geburtsjahr (1749) wurde in Würzburg die Nonne Maria Renata Singer verbrannt und als Goethe 26 Jahre alt war, hat man in Kempten die Dienstmagd Anna Maria Schwägel enthauptet. Und auch das Gretchen-Vorbild Susanna Maria Brandt hat den Gerichtsprotokollen nach behauptet: Sie könne nicht läugnen, daß von der Zeit an, als sie das Leben des Kindes verspühret, der Satan ihr in den Sinn gegeben habe, daß sie in dem grosen Hauß leicht heimlich gebähren, das Kind umbringen, verbergen und vorgeben könne, daß sie ihre Ordinaire wieder bekommen. Der verteidigende Anwalt hat das dann eher als „mildernden Umstand“ angegeben. In Frankfurt wurden zu dieser Zeit keine Hexen mehr hingerichtet. Aber Goethe kannte in jedem Fall die Prozessakten.
Natürlich ist an dieser Stelle nicht möglich, auf alle Theorien über den Hexenwahn einzugehen. Wie zum Beispiel auf die absurde Theorie der britischen Anthropologin Margaret Alice Murrey, die Anfang des 20. Jahrhunderts in ihrer Hexerei-These eine heidnische Verschwörung gegen die christliche Kirche aufgedeckt haben wollte. Murreys Ansicht nach existierte tatsächlich ein auf archaischen Fruchtbarkeitsriten aufgebauter Geheimbund, der „Witch-Cult in Western Europe“. Aber damit würde sie im Grunde den Hexenjägern im Nachhinein zu einem gewissen Recht verhelfen. Natürlich gab es keine Verschwörung. Im Gegenteil galt im 13. Jahrhundert nicht die Hexerei, sondern die „Irrlehre vom Hexenglauben“ als Teufelswerk. Der Hexenglaube wurde zunächst für „satanisches Blendwerk“ gehalten. Doch in dieser Zeit lebte ein alter Glaube wieder auf, der sich aus dem iranischen Manichäismus speiste, einer Idee des Dualismus in einem ewigen Ringen von Licht und Dunkel gegeneinander. Die Katharer im Westen und die Bogomilen im Osten waren Asketen, die sich von der Materie fern hielten und sogar den Geschlechtsakt in der Ehe für falsch hielten, da man sich so mit der dunklen Materie einließe. Es waren gnostische Lehren, gemischt mit urchristlichen Gedanken. Goethe selbst kannte diese sehr wohl und pflegte selbst einen gemäßigten Dualismus (siehe 8. Buch aus Dichtung und Wahrheit). In seiner Farbenlehre kommt dies deutlich zum Ausdruck und einiges davon finden wir eben auch im Faust. „Unser Geist scheint auch zwei Seiten zu haben, die ohne einander nicht bestehen können. Licht und Finsterniß, Gutes und Böses, Hohes und Tiefes, Edles und Niedriges und noch so viel andere Gegensätze scheinen, nur in veränderten Portionen, die Ingredienzien der menschen Natur zu sein, und wie kann ich einemMahler verdenken, wenn er einen Engel weiß, licht und schön gemahlt hat, daß ihm einfällt einen Teufel schwarz, finster und häßlich zu mahlen?“
An Eckermann berichtet er noch: „Unsere Zustände schreiben wir bald Gott, bald dem Teufel zu, und fehlen ein- wie das andremal: in uns selbst liegt das Räthsel, die wir Ausgeburt zweier Welten sind. Mit der Farbe geht’s ebenso; bald sucht man sie im Lichte, bald draußen im finsteren Weltall, und kann sie gerade da nicht finden, wo sie zu Hause ist.“ So wie Faust im Himmelsprolog in „die Klarheit (309) geführt werden soll und tatsächlich am Ende der „nicht mehr Getrübte (12074) ist. Jedenfalls schrieb Goethe selbst über den Hexensabbat an Frau von Stein „dass es weder ganz leer noch ganz Betrug“ sei. Eine Zwienatur in uns wird geeint, wie es in Vers 11954 heißt: Kein Engel trennte geeinte Zweinatur der innigen Beiden, die ewige Liebe nur vermags zu scheiden.
Die Kirche jedenfalls fing an, die Häretiker (Katharer und Bogomilen) zu bekämpfen. Dies waren die ersten Ketzersäuberungen im 13. und 14. Jahrhundert, einer Zeit in der die Macht der Kirche erste Einbußen erlebte und die Klasse der Kaufleute und der Ritterstand die Bildungshoheit gegenüber den Mönchen übernahm. Die Katharer wirkten in Frankreich, und die Bogomilen im byzantinischen Bosnien. Um aber die Ketzer tatsächlich verurteilen zu können, musste die Kirche ein Stück des Glaubens der Häretiker in sich aufnehmen. Der Dualismus, der eigentlich bekämpft werden sollte verschmolz im Hexenwahn. Die Katharer und Bogomilen verurteilten ja den Satan. Und den Ketzern wurde dann umgekehrt der Verkehr mit Satan vorgeworfen.
1486 entstand dann der Malleus malificarum, von dem Dominikaner-Mönch Heinrich Kramer verfasst. Die spanische Inquisition hat ihn zunächst nicht anerkannt. Aber das Feuer war angezündet. Schon 1326 gab es eine Bulle von Papst Johannes XXII, der die Zauberer mit den Ketzern gleichsetzte. Dieser Papst war voller Angst vor Hexen und Zauberei. Erst 1487 wurde es offizielle Kirchenlehre durch Papst Innocenz VIII, mit seiner berühmten Hexenbulle. Und die weltliche Gerichtsbarkeit hat dann dies im Hochgericht durchgeführt. Es waren Bestialitäten. Nicht nur Folter, sondern übelste Verstümmelungen, von Vierteilung, Haut abziehen, Gliedmaßen abtrennen und so weiter. Dabei gab es keine Klasse, die verschont blieb. Die durch Folter geständigen Zauberer, Ketzer und Hexen verrieten immer weiter Namen, die beim Hexensabbat dabei gewesen sein sollen. Der Besitz der Gefolterten und Verurteilten ging in die Kirche über.
Verlauf der Walpurgisnacht in Goethes Faust I:
Mephisto (Mephistopheles heißt er bei Goethe, in Original heißt er Mephostophiles / griech. me phos to philes = der, der das Licht liebt, Goethe machte daraus me phys to philes = der der den Körper liebt) steigt mit Faust auf den Blocksberg. Bereits angekündigt war dies in der Hexenküche im Vers 2588-90 wo Mephisto zur Hexe sagt: Und kann ich dir was zu Gefallen tun, so darfst du mir’s nur auf Walpurgis sagen.
Bevor Faust und Mephisto gemeinsam Margaretes Bruder töteten sagte Mephisto ab Vers 3659: Ein bißchen Diebsgelüst, ein bißchen Rammelei. So spukt mir schon durch alle Glieder die herrliche Walpurgisnacht, die kommt uns übermorgen wieder, da weiß man doch, warum man wacht.
Mephisto verlangt es nach einem Besenstiel, Faust will wandern, die Natur genießen. Auf einem Besenstiel zu reiten ist deutlich eine sexuelle Anspielung. Angeblich haben sich die Hexen eine Salbe in die Vagina gestrichen. Grimmelshausen beschreibt es anders: „ … denn sie hatten sich erst angezogen und anstatt des Lichts eine schweflichte blaue Flamm auf der Bank stehen, bei welcher sie Stecken, Besen, Gabeln, Stühl und Bänk schmierten und nacheinander damit zum Fenster hinaus flogen.“
Der Mond ist jetzt rot und „leuchtet schlecht“. Mephisto will daher ein Irrlicht hervorholen, damit er nicht dauernd stolpert. Irrlichter galten als dämonisch. Ignis fatuus (Narrenfeuer) oder Sumpflicht, das gerne in Mooren, dunklen Wäldern oder auf Friedhöfen gesichtet wird. Und das Irrlicht begrüßt M als „Herr vom Haus“. Er ist einer von vielen auf dem Blocksberg. Der Chef kommt zu Besuch.
Gemeinsam singen nun Irrlicht, Mephisto und Faust im Wechsel, es werden die Naturgeister beschworen, wie im Studierzimmer (1275), an Echo wird erinnert (die konnte Narziss ihre Liebe nicht gestehen, weil sie von Hera der Stimme beraubt wurde – sie hatte Hera mit Geschichten abgelenkt, damit Zeus wo anders naschen konnte).
Nun erblickt Mephisto einen Berg, der glüht, leuchtet vom Mammon. Das ist erneut ein übler Geist, diesmal, der personifizierte Reichtum, der die Menschen zum Geiz verführt. Im Mummenschanz (Faust II, Akt I) wird Mephisto als personifizierter Geiz erscheinen. Und in der Hexenküche (Vers 2398) heißt es: Und wär ich bei Geld, so wär ich bei Sinnen. Geld und Sex haben immer schon einen tieferen materialistischen Zusammenhang gehabt. Das ist das, was die Katharser gemeinsam als „dunkle Materie“ bezeichneten. Sie waren Asketen, lehnten Sex und Besitz ab.

In den Versen von 3936 bis 3955 wird eine Stimmung erzeugt, wie in einem typischen Horrorfilm. Nebel kommt auf, aufgescheuchte Eulen, wohl auch Fledermäuse, sie krachen splitternd durch das Geäst. Dann hört man schon Stimmen, Lärm der von der entfernten Party (Orgie) kommt.
Dann singen die Hexen im Chor. Ein Haufen sammelt sich. Sie begegnen Urian, der veraltet für einen „unliebsamen Menschen“, aber auch den Teufel steht. Und Baubo, die sich vermutlich verlaufen haben muss, denn sie wäre eher eine Gestalt der klassischen Walpurgisnacht. Sie kommt im eleusischen Fruchtbarkeitsmythos um Demeter vor. Dennoch passt sie auch wieder, denn sie ist ein recht derbe Dame, die der um ihre verschollene Tochter Persephone trauernden Demeter zur Aufheiterung derbe Witze erzählt.
Einmal nimmt Baubo die von der Suche nach ihrer Tochter völlig erschöpfte Demeter bei sich aufnimmt, bringt einen Mischtrank aus Wein und Getreide, den die Göttin aber ablehnt und sich in keiner Weise in ihrer Trauer ermuntern lässt. Da greift Baubo zu anderen Mitteln: sie geht und macht ihren Unterleib glatt und weich wie ein Kind (d. h. wohl, dass sie die Schambehaarung rasiert), dann kehrt sie zurück, beginnt Scherze zu treiben und deckt schließlich ihren glatten Unterleib auf. Sprach’s und raffte empor die Gewänder und zeigte die ganze Bildung des Leibs und schämte sich nicht. Und der kleine Iakchos (Kriegsgeschrei) lachte und schlug mit der Hand der Baubo unter die Brüste. Wie nun die Göttin dies merkte, da lächelte gleich sie von Herzen, nahm dann das blanke Gefäß, in dem ihr der Mischtrank gereicht war. So heißt es bei Aristophanes (Die Frösche).
Hier bei Goethe reitet Baubo auf einem Mutterschwein, das sind Schweine für die Zucht, also ganz allein für eine spezielle Sache.
Eine Stimme erwähnt, dass sie über den Ilsenstein angereist ist. Hier ist ein Einsprengsel mit Zeitsatire von Goethe. Dort hat der Graf Stolberg zu Wernigerode (der in den Walpurgisnachtstraum als „Orthodox“ noch vier Zeilen bekommt, 1814 ein Gipfelkreuz anbringen lassen zu Gedenken an die Befreiungskriege. Graf Stolberg war Teilnehmer der Koalitionskriege gegen das Revolutionsheer und Napoleon. Zudem ist der Ilsenstein auch umrankt von Sagen, zum Beispiel über den Frankenkönig Heinrich I (Heinrich der Vogler), der dort wohl gekrönt worden sein soll. Das ist der Gründungsmythos des HRR Deutscher Nation. Goethe ironisiert so den nationalen Mythos.
Der Hexenmeister verkündet, dass die Frauen schon vorausgeeilt sind und die andere Hälfte zeigt, wie das gemeint ist. Denn der Mann macht es mit „einem Sprung“ (Vers 3985) und das ist ein besonderer Sprung, denn hier geht’s tierisch zu und das wird „besprungen“, schließlich sind Böcke und Ziegen unterwegs.
Die im Vers 3989 offenbarte „Unfruchtbarkeit“ bezieht sich wiederum auf die Historie, nach der die Dämonen, sowohl Incubus als auch Succubus unfruchtbar waren.
„Wer heute sich nicht heben kann, ist ewig ein verlorner Mann“ singt der Chor in Vers 4002-4 und der Hexenchor kann dieses Elevationsphänomen (die liturgisch das Heben der Hostie mit der hebenden Schwellung des männlichen Geschlechts verzahnt) mit Hilfe der Pharmakologie erreichen (Vers 4008), und tatsächlich haben Bilsenkraut, Stechapfel, Tollkirsche, Eisenhut und Wasserschierling als Salbengrundlage gedient. Anton Praetorius (1560-1613, Kämpfer gegen die Hexenprozesse) beruft sich hier auf Paracelsus und berichtet von solchen Hexensalben (gemacht aus dem Fleisch ungeborener Kinder – klar was sonst, das erinnert an die Q-Anon-Verschwörung) die Frauen fielen daraufhin in einen unruhigen Schlaf und erwachten mit einem mächtigen Kater. Dann berichteten sie von Orgien und satanischen Erscheinungen, und dass sie wohl der Satansmesse beigewohnt. Für solche Träume wurde man dann gevierteilt. Sexuelle Phantasien reichten schon aus zur Verurteilung.eH H
Faust merkt, dass ihn Mephisto ablenken will vom Gedränge. Aber Faust blickt hinauf und sagt „Doch droben möcht ich lieber sein“ (V 4037), damit ist natürlich gemeint, dort oben, wo der Satan gerade seine Bergpredigt hält und die Huldigungen stattfinden. Faust will also den Satan kennen lernen. In dieser nun offiziellen Fassung der Walpurgisnacht verhindert Mephisto dies. Manche Exegeten behaupten, dass Mephisto fürchten musste, wenn Faust die Szenen auf dem Berggipfel sieht, dass er sich voll Stolz und Ekel davon abwenden würde und ihn Mephisto so verlieren würde. Eher zu vermuten ist, dass dies eher der Logik der Selbstzensur entspringt. Und Mephisto sagt nun, dass man in der großen Welt man kleine Welten macht (V 4045), was wieder auf das Mikro-Makrokosmische Weltbild verweist. Mephisto ist der Werber und Faust der Freier. Damit ist Mephisto der Zuhälter und Faust eben das, was man schon im Rotwelsch „Freier“ nannte und auch heute noch.
Der nun eingefügte zeitsatirische Schwenk oder Schwank zu den alten Herren zeigt, dass eben nicht nur Hexen, sondern auch hochgestellte Personen an der Teufelszeremonie teilnahmen. Und Zeitzeugen berichten allemal davon, sie seien Zeugen dieser grausigen Zeremonien gewesen. Was auch immer diese Voyeure gesehen haben mögen. Im Vers 4090 ist schon eine Vorausdeutung zum Anfang des zweiten Aktes gegeben. Denn dort gibt es ein Zwiegespräch zwischen Mephisto und dem zum Bakkalaureus aufgestiegenen Schüler über die Vorzüge der Jugend gegenüber dem Alter.
Die Trödelhexe baut ihren Stand auf und bietet jene üblen Dinge feil (Vv 4104-9), die ja typische Insignien des Schadenszaubers waren, der oft vor allem das Sexuelle betraf. Hier erwähnt die Hexe den Dolch mit dem Valentin getötet wurde, den Kelch aus dem die Mutter Gretchen das Gift trank und den verhängnisvollen Schmuck, der das unschuldige Ding verführte. So muss man Gretchen wohl als Hexe wahrnehmen. Und Fausts Ausruf „heiß ich mir das doch eine Messe“ (V 4114) bezieht sich auf die Satansmesse und nicht auf den Trödel (wie Exegeten gerne sonst vermuten), denn Mephisto spricht gleich vom Strudel der nach oben strebt (V 4116) und bittet Faust Lilith anzuschauen. Sie ist eine Dämonin aus altsumerischen Quellen, ein geflügeltes Mischwesen. Im Talmud wird sie als erste Frau Adams erwähnt, die Gott wieder tötete, weil sie sich dem Manne nicht unterwerfen wollte. Sie war – wie Adam – aus Lehm gestaltet worden und dem männlichen ebenbürtig. Die Bibel erwähnt sie in Jesaja 34,14 „Wüstenhunde und Hyänen treffen sich hier (Edom, wird gerichtet wegen des Hasses der Edomiten auf Israel) die Bocksgeister begegnen einander, auch Lilit (das Nachtgespenst) ruht sich dort aus und findet für sich eine Bleibe.“ In einer späteren Vorstellung wird Lilith zu einer kindstötenden Dämonin (und Vorlage der Succubus-Erscheinung, die nachts Männer besucht und für einen nächtlichen Samenerguss sorgt).
Nun geht es zum Tanz, der Hexentanz, der ja zum festen Ritual gehört. Faust tanzt nun mit einer jungen und erzählt ihr in Anlehnung an das Hohelied von Salomon von „zwei schönen Äpfeln“ (V 4130). Salomon nennt Schulamit (aus Hohelied 7,1 „Wende dich, wende dich, Schulamit! Wende dich, damit wir dich betrachten“) „meine Schöne“ (2, 13).
Man muss nicht lange überlegen, welche Äpfel Faust da gemeint haben könnte. Jedenfalls „sie reizten mich, ich stieg hinan“, ist hier derb sexuell, während zum Finale in Faust II der Schlusssatz „Das ewig Weibliche zieht uns hinan“ wiederum zu einer Transzendierung dieser nur sexuellen Vokabel wird.
Und die Schöne nimmt das auf und kommt gleich zur Sache, indem sie Faust an den verbotenen Apfel im Paradies erinnert (V 4133).
Während dessen tanzt Mephisto mit der Alten (vermutlich um sein Versprechen an die Hexe aus der Hexenküche einzuhalten (V 2390). Zugleich wiederholt sich das formal als Reigen, wie in Marthens Garten.
Und wieder eine zeitsatirische Einmengung: Der Proktophantasmist ist ein Neologismus von Goethe den man mit „Steißgeisterseher“ übersetzen kann. Damit ist ein Zeitgenosse Goethes gemeint. Und zwar Friedrich Nicolai, auch Nickolai (* 18. März 1733 in Berlin; † 8. Januar 1811) war ein Hauptvertreter der Berliner Aufklärung, Freund Lessings, Zelters und Mendelssohns, Gegner Kants und Fichtes. Nicolai litt im Frühjahr 1791 acht Wochen lang an einer Störung, in deren Folge er Geisterscheinungen (Phantasmen) wahrnahm. Er kurierte sich mit am Gesäß angesetzten Blutegeln (eine seinerzeit verbreitete medizinische Methode) und berichtete über gute Erfolge dieser Maßnahme sogar vor der Berliner Akademie der Wissenschaften. Daraufhin ließ ihn Goethe in seinem Faust, in der Szene Walpurgisnacht, als „Proktophantasmist“ (Steißgeisterseher) auftreten:
Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört.
Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel.
Wir sind so klug, und dennoch spukt’s in Tegel (Poltergeis-Spuk 1797 in Berlin Tegel).
Wie lange hab‘ ich nicht am Wahn hinausgekehrt,
Und nie wird’s rein; das ist doch unerhört!
Das wird von Mephisto wie folgt kommentiert:
Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
Das ist die Art, wie er sich soulagiert,
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,
Ist er von Geistern und von Geist kuriert.
Währenddessen lässt Faust das Mädchen stehen, weil ihr „ein rotes Mäuschen aus dem Munde“ schlüpfte (V 4179). Hier bediente sich Goethe auch wieder bei Praetorius, der von einem thüringischen Gutshof berichtet, eine Magd sei beim Obstschälen eingeschlafen und „da kreucht ihr zum offnen Maule herauß ein rothes Mäuselein“. Daraufhin fand sie den Tod. Praetorius berichtet, dass auf dem Hof ein Knecht gelebt haben soll, der schon vielfach „von einer Truth gedrukt worden sei“ und nicht eher Ruhe gefunden hätte, als bis die Magd eben tot sei. Die rote Maus war die heraushängende Zunge der erwürgten Magd.
Mephisto versucht Faust zu beruhigen, dass das nichts Schlimmes sei. Aber der Schock der roten Maus sitzt wohl tief, denn gleich darauf erscheint ihm das Idol von Gretchen als Tote (V 4190). Die junge Hexe mit ihrer roten Maus hat Faust quasi noch einmal gerettet. Mephisto tut zwar so, als wäre das ein Trugbild von Meduse (eine der Gorgonen bei der man zu Stein erstarrt, wenn man sie anblickt – ihr werden wir in der klassischen Walpurgisnacht wirklich begegnen und das wird für Mephisto kein Spaß).
Dass Gretchens Hals von einem „roten Schnürchen“ geziert wird, das ist sicher die Blutspur durch die Köpfung. Jean Bodin schildert in seiner De Magorum Daemonomania genau so eine Geköpfte „mit einer roten Blutschnur um den Hals“. In Faust II im dritten Akt kommt es zu einer weiteren Hinrichtungsszenerie, wo Mephisto die mögliche Hinrichtung Helenas durch Menelaos schildert (in Anspielung auf Marie Antoinette). Und schon darauf kündigt der Servibilis (dienstbarer Geist des Theaters) das Stück an, das nun als Intermezzo folgt und bei dem Faust nur Zuschauer ist. Der Walpurgisnachtstraum der sich an Shakespeares Sommernachtstraum anlehnt. Shakespeare war Goethes Säulenheiliger und ohne ihn wäre Goethe wohl auch kaum vorstellbar.

Nach dem Intermezzo käme nun die eigentliche Satansmesse.
Und dieser Sabbat (Synagoga Satanae) verläuft genau umgekehrt wie eine herkömmliche Messe. Genau dies schildert Goethe auch. Doch er unterzieht die Szenen einer Selbstzensur, die bis heute nicht gedruckt vorliegen, sondern als eine Art Paralipomena in handschriftlicher Form in Weimar (dort im Gartenhaus) einsehbar.
Zunächst wandert der Zug der Hexen zum Blocksberg, wo auf der Höhe Satan seine Bergpredigt halten wird. Dann kommt es zur Huldigung Satans. Der Homagium, einem Treuegelübde des Vasallen gegenüber seinem Lehnsmann. Das ist der Kuß auf den Hintern Satans, wie es der Ceremonienmeister in den Paralipomena darstellt. Es kommt zur Prostration, der Niederwerfung vor Satan. Danach findet der Hexentanz statt (Faust tanzt mit der jungen Hexe) und anschließend kommt es zu einer rituellen Orgie, wo sich jeder mit jedem vermischt. Im Malleus maleficarum werden denn auch die abstoßenden Sexualpraktiken geschildert. Darin kommt auch die Homophobie zum Ausdruck, denn wenn nicht genug Männer da sind, treiben es die Weiber untereinander und umgekehrt. Auch die Lehre vom Succubus und Incubus als Vereinigung mit dem Dämonischen folgt dem Hexenhammer und wird von vielen Hexentheoretikern der damaligen Zeit (Jean Bodin, Anton Praetorius, – alle hat Goethe nachweislich gelesen) geschildert. Die Umkehrung der Messe geht bei Goethe tief in den Text ein. So schildert Satan die Böcke zur rechten, die Ziegen zur linken. In Matthäus 25, 31 (Schilderung des Weltgerichts) heißt es: Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken. In der Satansmesse genau anders rum.
Die Böcke zur rechten, / Die Ziegen zur lincken / Die Ziegen sie riechen / Die Böcke sie stincken / Und wenn auch die Böcke / Noch stinckiger wären / So kann doch die Ziege / Des Bocks nicht entbehren.
Des Weiteren die Hinweise auf Gretchen, die offensichtlich dem Bösen verfallen ist, und die ja in der offiziellen Fassung der Walpurgisnacht Faust als Tote erscheint, bereits hingerichtet. (V 4195), in der nicht veröffentlichen Satansmesse spricht Satan vom „glänzenden Gold und dem weiblichen Schoos“, und Gretchen in ihrer Stube sprach noch vom „Golde hängt doch alles ab (V 2803)“ und dann vor dem Stelldichein (nach Wald und Höhle), drängt sich ihr Schoos nach ihm (hier zwar Busen, V 3406 / im Urfaust aber noch Schoos).
Satan rechts gewendet. / Euch giebt es zwey Dinge / So herrlich und groß / Das glänzende Gold / Und der weibliche Schoos. / Das eine verschaffet / Das andre verschlingt / Drum glücklich wer beyde / Zusammen erringt.
Und:
Satan lincks gewendet. / Für euch sind zwey Dinge / Von köstlichem Glanz / Das leuchtende Gold / Und ein glänzender Schwanz / Drum wißt euch ihr Weiber / Am Gold zu ergötzen / Und mehr als das Gold / Noch die Schwänze zu schätzen /
Goethe schildert in seiner Satansmesse ziemlich genau die Abfolge dieses Rituals nach damaliger Vorstellung in seiner ganzen perfiden Zotigkeit und tat wohl ganz recht, diese Szenen in den literarischen Giftschrank zu sperren. Dennoch kann man die Walpurgisnacht im Faust ohne die Satansmesser gar nicht verstehen. Der kulturhistorische und literarische Mehrwert dieses Faustkapitels liegt auf der Hand. Als Höllenepilog strömt die Menge dem Bösen zu und Goethe erkannte in der Industrialisierung und dem Aufkommen des Kapitalismus das „velofizerische Zeitalter“ (Goethes Kofferwort setzt sich aus velos = eilig, und Luzifer zusammen). Goethe war allerdings kein Bremser oder Bedenkenträger. Der alptraumhafte Rausch dieser Verse verweist nur auf das Finale im fünften Akt Faust II, kurz vor Faustens Tod:
Faust: „Es ist die Menge die mir frönet, die Erde mit sich selbst versöhnet“
Mephisto: „In jeder Art seid ihr verloren; – Die Elemente sind mit uns verschworen, und auf Vernichtung läuft’s hinaus.
Wer hat das Haus so schlecht gebaut? Es war auf kurze Zeit geborgt; der Gläubiger sind so viele….

Bernhard Horwatitsch
„Schreibt seit vielen Jahren dies und das und wird es auch weiter tun. Warum er das tut, hat er längst vergessen.“
Der Münchner Autor und Dozent schreibt seit vielen Jahren für deutsche und österreichische Literaturzeitschriften. Seit 2004 gibt er Kurse in „kreativem Schreiben“ und „Literaturgeschichte“ an der Münchner Volkshochschule und dem Münchner Bildungswerk. Gemeinsam mit Arwed Vogel arbeitet er seit 2008 als Dozent und Coach für das „freie Literaturprojekt“ (www.literaturprojekt.com).

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