ZeitenGeist

Magazin für Kultur, Gesellschaft und Bewusstsein


Kristallnachtkugel der Geschichte

Von Bernhard Horwatitsch – Kultur – Gesellschaft

Kristallnachtkugel der Geschichte

History is bunk (Henry Ford)

Das Ende von Büchern könnte in Form des Schlusses, als letztes Kapitel, als letzte Seite, als letzter Satz oder in Form des faktisch herbeigeführten Endes gesehen werden: das Buch wird vernichtet, verschlungen, verbrannt, es macht sich selbst überflüssig, hebt sich auf. Aktionen der letztgenannten Art werden allgemein in einem definitiven, finalen, ja fatalen Sinn betrieben: als Warnung, Strafe, Holocaust, damnatio memoriae, Selbstanzeige, als ein Ende, das viele andere Enden impliziert und das immer nach dem Muster des einen großen Endes modelliert ist. Das Ende der Welt im Symbol der eingerollten Buchseiten ist oft der Anfang der Utopie, der Niegeschichte (Dietmar Dath).

Identität – Kontinuität – Stabilität. So lautet das Weltstaats-Motto aus Huxleys schöner neuer Welt, einem Menschenpark für Menschen die ihre Sklaverei lieben. Für sie ist die Geschichte zu Ende. Das ewige Rom, der ewige Weltstaat, die Civitas Humana entsprechen einem immer währenden Glücksutilitarismus. In jeder Utopie lauert die Geschichtsfeindlichkeit und damit die Kunst- und Kulturfeindlichkeit eines Platons.  Weltweit blühen jetzt wieder autoritäre Staatsmodelle mit einem menschlichen Gesicht auf. Sie arbeiten (von Polen bis Brasilien) mit einer rechten Ideologie und einem linken Sozialprogramm. Der Nationalsozialismus ist das zugrunde liegende Staatsmodell für die Mischung von Autorität und Wohlfahrt. Der Glücksutilitarismus ist in seiner Natur rassistisch und geschichtsfern   Ein Grund, sich anzusehen, was Geschichte ist und vor allem, was sie nicht ist. Und sind wir schon am Ende der Geschichte angelangt, hat sie überhaupt ein Ende? Und wie unterscheiden sich Geschichten von Geschichte?

Titanen gegen Olympier

Am Anfang stand die mündlich tradierte Erzählung, der Mythos. Zwischen einem Erdbeben und einem Krieg wurde noch kaum unterschieden. Das machte bezogen auf die zerstörerischen Folgen beider Ereignisse durchaus Sinn. Vergangene Ereignisse wurden erzählt, ausgeschmückt und eingeordnet. Erst allmählich fingen die Menschen an, auch ihre Erzähl- und Ordnungsmethoden zu untersuchen.
Nun lässt sich ein einzelnes Ereignis untersuchen wie ein Gegenstand. Wer war dabei, wer tat was? Man kann sich auch fragen, was hat uns das Ereignis gebracht. Warum fand es statt und hätten wir es verhindern können?  In einem noch abstrakteren Sinn kann man auch fragen, wie ich zu dem Gegenstand der Untersuchung stehe. Was hat das Ereignis mit mir zu tun oder mit meiner Zeit. Kann ich überhaupt die Vergangenheit verstehen? Oder bin ich nicht eher ein Kind meiner Zeit? Was ihr den Geist der Zeiten nennt, das ist der Herren eigener Geist in dem die Zeiten sich bespiegeln.

In Antike, Mittelalter und bis in die Neuzeit betrachtete man den Verlauf von Geschichte zyklisch. In der Regel war Geschichte immer zugleich Staatsgeschichte und damit politisch. Platon sah eine Verfallsgeschichte vorherrschen. Aristoteles erkannte Übergänge in den Staatsformen. Und der Geschichtsschreiber Polybios bemerkte einen Kreislauf im Auftreten von Staatsformen. Cicero stellte fest, dass auch ein statischer Zustand denkbar sei. So erkannte er in der römischen Republik die perfekte Staatsform, die somit auch ewig sein könnte. Augustinus wiederum sah einen linearen Verlauf: Schöpfung, Heilsgeschichte und Jüngstes Gericht. Darin ist die besondere Spannung zwischen Rom und den Christen zu verstehen, denn für die Christen war die Vorstellung eines „ewigen Reiches“ eine Form der Blasphemie, da nur Gott darüber entscheiden konnte. Da die Geschichte in der Schöpfung einen Anfang und im jüngsten Gericht ein Ende hat, kann es keine irdische ewige Staatsform geben.
Die Römer dagegen sahen in der Vorstellung der Christen eine Form der Zersetzung, weil diese das ewige Reich Roms nicht anerkannten und nicht daran glauben wollten.

Diese Vorstellungen waren bis in die Neuzeit präsent.

Man könnte vermuten, dass dieser Chiliasmus eines kommenden, 1000 Jahre währenden Friedensreichs überirdischer Natur mit dem statischen Gedanken eines ewigen Reiches verschmolz. Die Idee eines zyklisch auftretenden Dritten Reichs ist damit als naiver Geschichts-Dilettantismus  anzusehen. Schon vor 100 Jahren war es im Sinne Adornos Mythos aus zweiter Hand. Okkulter Schwachsinn und Metaphysik für Dumme. Wer sich heute solchen oder ähnlichen Vorstellungen hingibt, ist schon nicht mehr dumm, sondern im psychiatrischen Sinne behandlungsbedürftig.

Ein Licht geht auf

Erst mit Beginn der Aufklärung nahm man einen Gesamtblick ein, fügte zur Geschichte Wissenschaft, Technik, Kunst dazu. Es folgte der Fortschrittsgedanke. Im Deutschen wurde Geschichte folgerichtig immer im Plural verwandt. Man sagte: Die Geschichte sind folgendes… So entstand eine Universalgeschichte, eine Weltgeschichte.
„Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ sagte schon Schiller.

Voltaire war der erste, der den Terminus der Universalgeschichte anwandte. Im Zuge der Säkularisierung wurde die Geschichte vom Heilsgedanken des Christentums gelöst.

Giambattista Vico (1668 bis 1744)  sprach von der „ewigen idealen Geschichte“. Jedes Volk durchläuft hier drei Stadien. Im Rahmen jedes Stadiums herrscht als Zeitgeist bestimmte Auffassungen von Sitte, Recht, Religion, Sprache, Kunst und Politik vor. Im ersten Stadium, dem göttlichen Zeitalter gibt es eine rohe Mythologie. Im zweiten Stadium, dem heroischen Zeitalter herrschen Helden, rohe Gewalt, ein Verhältnis von Herr und Knecht. Im dritten Stadium, dem menschlichen Zeitalter herrschen dann Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit vor.

Bei dem Marquis de Condorcet (1743 bis 1794) gibt es eine integrale Entwicklung von Geschichte, die in 9 Epochen unterschieden werden kann. Hier wachsen Gleichheit, Freiheit, Frieden und Menschenrechte unaufhaltsam an. Dieser Optimismus eines unaufhaltsamen historischen Fortschritts kennzeichnet die Aufklärung in besonderem Maße.

Immanuel Kant (1724 bis 1804) favorisierte ebenfalls einen aufgeklärten historischen Verlauf hin zu einem liberalen Rechtsstaat und einem friedlichen Völkerbund. Im Unterschied zu den anderen Aufklärern jedoch ist dies bei Kant eine Idee. Unter Idee versteht Kant einen Vernunftbegriff und keine objektive Begebenheit. Fortschritt ist bei Kant als eine Aufgabe des Handelns gedacht, als regulative Idee in praktischer Absicht. Unter dem Gesichtspunkt ihres Fortschreitens kann man die Geschichte interpretieren, aber man kann nicht behaupten, dass dieser Fortschritt unaufhaltsam ist und so oder so kommt. Kant blickt also deutlich skeptischer auf den Optimismus der Aufklärer. Er begrüßt ihre Ideale, aber er schränkt ein, dass diese nicht von alleine kommen.

Im deutschen Idealismus hat der Fortschrittsgedanke apriorischen Charakter, als eine Gewissheit, als Vernunft, die kommen muss. Da die Menschen in ihrer Natur alle gleich sind, kann es auch nur eine Entwicklung geben.

Gottlieb Fichte (1762 bis 1814) unterschied fünf Hauptepochen, in denen sich die Menschheit vom Unbewussten in die Bewusstheit wandelt.
Am Anfang herrscht bloßer Vernunftinstinkt auf den eine Epoche der Autorität folgt. Danach folgt eine Epoche der Gleichgültigkeit und schließlich kommt die Epoche der Vernunftwissenschaft. Die abschließende die Epoche der Vernunftkunst meint eine Logik, die Geschichte vom Vorstellungsobjekt trennt.  Ziel ist eine Übereinstimmung des Vorgestellten und Gedachten mit den Gesetzen des Denkens, nicht aber mit den Gegenständen der wirklichen Welt. Geschichte wird zur Utopie, bzw. Utopie zur Geschichte.

Friedrich Wilhelm Schelling (1775 bis 1854) sah die Geschichte als eine allmähliche Offenbarung des Absoluten. Das Absolute war bei Schelling die Einheit von Subjekt und Objekt.  So existierte eine ursprüngliche Einheit von Subjekt und Objekt  im Mythos. Dann kam es zu einer Scheidung durch die Philosophie, um schließlich in einer eucharistischen Wandlung wieder identisch miteinander zu werden durch die Religion.
GFW Hegel (1770 bis 1831) sah vor allem den Geist als das Subjekt der Weltgeschichte. Der Geist ist bei Hegel ein Zustand, in dem Gegenstand und sein Begriff in eins fallen.
Der objektive Geist umfasst Recht, Moral und Sittlichkeit, also das Politische. Der absolute Geist umfasst die Kunst, Religion und Philosophie, als das Kulturelle. Die Weltgeschichte endet, wenn sie als Begriff und Gegenstand zu sich selbst gekommen ist. Hegel dachte, dies sei mit der preußischen Monarchie geschehen. Aus diesen Gedanken der Gewissheit entwickelte sich der bedeutende Entfremdungsbegriff. Doch schon Adorno prüfte diese Gedanken kritisch: Die Kraft der Sprache bewährt sich darin, dass in der Reflexion Ausdruck und Sache auseinander treten. Sprache wird zur Instanz von Wahrheit nur am Bewusstsein der Unidentität des Ausdrucks mit dem Gemeinten. So Adorno kraftvoll in seiner negativen Dialektik.

Wahrnehmen und für wahr nehmen

Hier muss man den Positivismus nennen. Zum Beispiel Auguste Comte (1798 bis 1857), der in seiner Geschichtsphilosophie von einer soziologischen Gewissheit ausging. Während Karl Marx (1818 bis 1883) von einer ökonomischen Gewissheit ausging. Positivistische Geschichtsschreibung hat meist das Problem von einer bestehenden Signifikanz auf Kausalität zu schließen. Und auch hier weiß Adorno die Grenzen, denn die Aufklärung im Sinne eines Positivismus wird selbst wieder zum Mythos. Selbst eine erheblich signifikante Anzahl von nistenden Störchen in einem Gebiet beeinflusst die Geburtenrate nicht. Die heutige Linke unterliegt dem gleichen Irrtum wie die Neue Rechte, wenn sie soziale Ungerechtigkeit zum alleinigen Grundstein des historischen Unbehagens erklären.

Eine andere Gruppe wiederum ging von einer Verfallsgeschichte aus. Oswald Spengler (1880 bis 1936) veröffentlichte im Jahr 1918 sein berühmtes Buch „Untergang des Abendlandes“ in der er eine morphologische Verfallsgeschichte der Kulturen beschrieb, analog zum Individuum, mit Geburt, Wachstum, Reife und Tod. Auch Arnold Toynbee (1889 bis 1975) erkannte eine Verfallsgeschichte der Kulturen, allerdings etwas differenzierter und weniger pessimistisch wie Spenglers Aufstieg-Blüte-Verfall-Dreisatz. Er verfolgte einen evolutionistischen Ansatz nach dem die Kulturen je nach Fähigkeit und Herausforderung aufsteigen oder verfallen. Alexandre Kojève (1902 bis 1968)sowie Francis Fukuyama (1952)vertreten einen teleologischen und gesetzmäßigen Verlauf zu einem Ende der Geschichte im hegelianischen Sinn. Doch bei allem Telos stellt sich hier die Frage, was eigentlich ein Volk, was Kulturen überhaupt sind? Ist die Kultur tatsächlich ein festes, geschlossenes Objekt? Johann Gottfried Herder (1744 bis 1803, Weimar) begriff die einzelnen Kulturen (z.B. die türkische, die arabische, die russische, die deutsche…) wie aufeinanderstoßende Kugeln oder auch autonome Inseln, die „mit der territorialen und sprachlichen Ausdehnung eines Volkes deckungsgleich sein sollten“. Man prägte auch den Begriff „Container-Nationen“ (mit Türen) Doch dies ist eine veraltete Vorstellung. Kultur gibt es nicht als Ganzes, als geschlossenen Gegenstand, auch nicht als Container mit Türen durch die etwas hinein oder hinaus gelangen kann. Kultur ist vielmehr ein Ausdruck, der im Höchstmaß eine Identität mit der Sache vermissen lässt.

Die Merkur-Verschwörung

Hier gilt die Fragestellung nach der Funktion von historischem Wissen. Wie funktioniert historisches Wissen bzw. eben nicht. Auf der Metaebene lassen sich hier die Darstellungen der Geschichtsschreiber selbst betrachten.

Schon in der Antike gab es für die Geschichtsschreibung eine Muse, Klio. In der Antike sah man die narrative Natur der Geschichtsschreibung in der narratio rei gestae. Erzählungen behandeln partikulare Ereignisfolgen, und keine Universalgeschichte. Diesen Ansatz verfolgt auch die postmoderne Geschichtsauffassung, meint dies aber nicht als Kompliment, sondern als Kritik an der Geschichtsschreibung. Nach postmoderner Lesart ist Geschichtsschreibung beliebig, hat keinen Wahrheitsanspruch, weil es eine narrative Struktur hat. Eher wird das Narrativ zur Unterstützung politischer Machtansprüche missbraucht. Jean-François Lyotard (1924 bis 1998) sprach vom „Ende der großen Erzählung“. Es gibt keine Universalgeschichte mehr, nur partikulare Ereignisfolgen. Geschichtsschreibung dient zur Legitimation von Machtansprüchen durch Narrative. Lyotard nennt die Aufklärung als Beispiel, die stets den Gestus des Fortschritts verfolgt und jedes Ereignis auf den Fortschritt umdeutet.

Hayden White (1928) verfolgte eine linguistische Klassifikation der Geschichtsschreibung, indem er den Ansatz des Narrativen ernst nahm.

„Auch Klio dichtet“.

Er sprach von vier Emplotments. Man kann einen Text als Romanze, als Satire, als Komödie und als Tragödie erzählen. Dies wiederum setzt gewisse Tropen. Es gibt Anarchisten, Liberale, Konservative und Radikale.

Hegel ist für Hayden White ein „konservativer Komödienschreiber“, denn bei Hegel geht alles gut aus (Komödie) und zwar mit der preußischen Monarchie, das ist das Konservative. Marx dagegen ist ein radikaler Tragödiendichter, denn bei Marx läuft alles unaufhaltsam ab, das ist das Tragische, und zwar auf die proletarische Revolution, das ist das Radikale.

Streng genommen – denn Hayden White ist Literaturwissenschaftler und kein Historiker – also streng genommen muss man nach konstruktiver Grundlegung für den epistemologischen Ansatz suchen.

So ist Geschichte notwendig eine Erzählung. Historisches Erzählen ist eine wichtige Praxis – neben dem literarischen Erzählen. Historisches Wissen, Denken ist ein unentbehrlicher Weltzugang und bedarf genauerer philosophischer Reflexion und Einordnung.

Paul Ricœur ( 1913 bis  2005) war Phänomenologe, und er sah die Menschen in einem speziellen Spannungsfeld. Einerseits gibt es die subjektive Zeit und andererseits die ganz objektive, rein physikalische Zeit. Und der Mensch befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Zeitperspektiven. Um diese beiden Zeitphänomene zusammenzubringen gibt es historische und fiktive Erzählungen, die sich wechselseitig voneinander bedienen.

Arthur Dento (1924 bis 2013) war analytischer Philosoph. Er stellte sich die Frage, was ist der typische historische Satz? Geschichte, so Dento, ist nicht nur eine Ansammlung von historischen Fakten, Chroniken, Tabellen, sondern ein historischer Text stiftet immer einen Bedeutungszusammenhang. Die historische Erzählung unterscheidet sich von der literarischen Erzählung dadurch, dass die Ereignisse wirklich geschehen sind, formal aber erzählt werden. „History tells Storys“.
Ein früheres Ereignis E1 wird aus Sicht von einem späteren Ereignis E2 erzählt. Beide Ereignisse liegen in der Vergangenheit des Historikers. E1 erhält von E2 her seine Bedeutung.

Dentos Beispiel: 1618 begann der 30jährige Krieg. Da dieses Datum erst 1648 beim westfälischen Frieden klar wurde, benötigt die erste Aussage eben die Betrachtung der zweiten. Denn beim Prager Fenstersturz hätte zwar jemand ausrufen können: „Um Gottes Willen, jetzt beginnt der 30jährige Krieg“. Aber diese Aussage wäre nicht historisch, sondern höchstens prophetisch.

Nach Dento fehlt den Zeitzeugen die maßgebliche Interpretationshilfe durch das Ereignis E2. Erst später, also nach E2 weiß man von der historischen Bedeutung eines Ereignisses. Damit ist nicht nur die Zukunft offen, sondern auch die Vergangenheit. Es gibt keine abschließende historische Deutung, weil ja immer wieder ein Ereignis entdeckt werden könnte oder als unwahrhaftig entlarvt. Und weitere Ereignisse können folgen und so die Deutung verändern. Hegels Geschichtsphilosophie ist damit keine Geschichtsphilosophie, weil sie von einer sich abschließenden und endgültigen Deutung her begreift. Dies ist ein Widerspruch. Ein geschichtlicher Vorgang ist erst dann historisch erkannt, wenn er als Fortsetzung, nicht Unterbrechung des geschichtlichen Prozesses aufgezeigt worden ist, weiß es Gustav Radbruch (Rechtsphilosophie §3) und zeigt auf, dass sich „auch das selbstherrlichste Wollen“ in einer nachträglichen historischen Betrachtung „aus einem längst gereiften Verhältnis notwendig entsprungenen Müssens“ ableitet.

In der Akademie von Lagado

Wie ist das Selbstverständnis, wie sicher die theoretischen Grundlagen der Geschichtsschreibung? Autoren wie Herodot, Thukydides, Polybios, aber auch  Cicero, Augustinus, Hobbes, etc.., galten als gebildete Autoren. Sie verfügten über einen guten Stil und Erfahrung, aber sie waren keine Wissenschaftler.

Eine professionelle Akademisierung der Geschichtsschreibung gab es erst ab dem 19. Jahrhundert mit der deutschen Historikerschule. Ihr Gründervater ist Leopold von Ranke (1795 bis 1886).
„Bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen“, ist das berühmteste Zitat von Leopold von Ranke. Dazu muss man bedenken, dass von Ranke diesen Satz sagte, als die Hegelsche Geschichtsphilosophie noch Hochkonjunktur hatte. Insofern ist die scheinbare Bescheidenheit der Aussage auch wiederum Zeugnis neuen Selbstbewusstseins. Historiker wollten sich emanzipieren gegenüber dem deutschen Idealismus, der ihnen stets aufzeigte, dass sie als bloße Empiriker Geschichte gar nicht verstehen würden, wenn sie nicht auch den philosophischen Zusammenhang einer Universalgeschichte mitdachten. Bloß zeigen, wie es gewesen. Aber wir wissen, dass sich dahinter ein enormer Anspruch verbirgt. Wie war es eigentlich wirklich?

Der Neukantianismus formulierte Mitte des 19.ten Jahrhunderts eine Differenz zwischen der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft. Die Naturwissenschaft sucht nach allgemeinen Gesetzen für die einzelnen Ereignisse, während die Geisteswissenschaft das Einzelne in seiner Einzigartigkeit und Besonderheit zur Darstelllung bringen will.
So prägte Wilhelm Windelband (1848 bis 1915) die Aussage: Naturwissenschaftliche Disziplinen verfahren „nomothetisch“ (formulieren allgemeine Gesetze) und die historischen Disziplinen verfahren „idiographisch“ (das einzelne zeichnend). Heinrich Rickert (1863 bis 1936) formulierte es ähnlich: Naturwissenschaft generalisiert. Und die Kulturwissenschaft individualisiert.

Die zur gleichen Zeit sich ausprägende Hermeneutik sagte dagegen, Naturwissenschaften erklären Ereignisse als notwendig aufgrund eines Gesetzes. Die Kulturwissenschaft dagegen will ein Ereignis verstehen, nicht kausal, eher intentional. So Gustav Droysen (1808 bis 1884) und Wilhelm Dilthey (1833 bis 1911), in der einfachen Aussage: Naturwissenschaft erklärt die Ereignisse und Kulturwissenschaft versteht die Ereignisse.

Fakten, Fakten, Fakten und ein paar Fake-News

Fakten der Vergangenheit sind als Forschungsgegenstand nicht direkt zugänglich. Darin ähneln sie auch naturwissenschaftlichen Fakten die man durch Experimente zugänglich macht. Andererseits sind Geschichten subjektiv und ihre intersubjektive Erkenntnis nur gespielt. Aber Kinder die Fangen spielen, fangen sich wirklich. Die Unterbestimmtheit der Theorie durch Beobachtung, sowie die Theoriebeladenheit von Beobachtung ist sowohl für Natur- als auch Kulturwissenschaft ein Problem bei der Faktenerhebung. Doch die historische Forschung hat noch ganz spezifische Probleme: Historische Fakten können gefälscht sein, oder Zeitzeugen können lügen. Ein wissenschaftliches Experiment kann nicht lügen. Hinzu kommt noch die Unwiederholbarkeit historischer Fakten. Während ein Experiment das missglückte wiederholt werden kann, gilt diese Option nicht für historische Fakten. Sie sind immer einmalig.  Daher gleichen Historiker in ihrer Arbeitsweise eher Juristen oder Kriminalisten, denn sie sammeln Indizien, befragen Zeugen und interpretieren dann ein Ereignis.
Es kommt so zur Erstellung einer historischen Interpretation, die aber immer auch anders sein könnte. Das bleibt stets ungewiss. Die Pyramiden könnten nicht von den Ägyptern, sondern doch von Außerirdischen erbaut worden sein. Ganz auszuschließen ist das nicht.
Historische Fakten benötigen in ihrer Erschließung mehrere Entscheidungen.
Anfang und Ende muss entschieden werden. Die Terminologie und die Perspektive müssen gewählt werden.

Es entstehen Effekte von Umorientierungen, historic turns. Und es kommt zu Legitimationskrisen in der Geschichtsschreibung. Weil, wie schon Arthur Dento klar machte, eine Deutung nie abgeschlossen ist und auch aus ihrem zeitgeistlichen Kontext heraus geformt wird. Zukünftige Historiker werden möglicherweise den ersten und zweiten Weltkrieg zu einem großen Krieg zusammenfassen. Die düstere Horrorvision eine zukünftige Geschichtsschreibung könne den Holocaust zum Mythos erklären und Hitler zu einem Friedensstifter lässt mich frösteln.

Bernhard Horwatitsch

„Schreibt seit vielen Jahren dies und das und wird es auch weiter tun. Warum er das tut, hat er längst vergessen.“

Der Münchner Autor und Dozent schreibt seit vielen Jahren für deutsche und österreichische Literaturzeitschriften. Seit 2004 gibt er Kurse in „kreativem Schreiben“ und „Literaturgeschichte“ an der Münchner Volkshochschule und dem Münchner Bildungswerk. Gemeinsam mit Arwed Vogel arbeitet er seit 2008 als Dozent und Coach für das „freie Literaturprojekt“ (www.literaturprojekt.com).


Auf ZeitenGeist findest Du weitere Artikel von Bernhard Horwatitsch!.

Mehr über ZeitenGeist HIER

Dir gefällt die Art des Ausdrucks, Journalismus, das Medium ZeitenGeist und Du möchtest gerne regelmäßig mehr davon? Du möchtest ZeitenGeist fördern? Wenn ja, schau auf Über ZeitenGeist HIER



3 Antworten zu „Kristallnachtkugel der Geschichte”.

  1. „Weltweit blühen jetzt wieder autoritäre Staatsmodelle mit einem menschlichen Gesicht“
    …das Heer der Despoten hat aus der Geschichte nichts gelernt…

    Like

    1. Hm. Ich erinnere mich noch an die aufhellende Lektüre „Massenpsychologie des Faschismus“ von Wilhelm Reich. Dort hat Reich den Faschismus als ein Problem der Massen interpretiert und nicht der Verantwortlichkeit einer Einzelperson typisiert. Um die breite Masse zu manipulieren und für sich zu gewinnen bediente sich der Nationalsozialismus revolutionärer Phrasen und Polarisierung. Letztendlich kommt Wilhelm Reich zu dem Schluss, dass der Faschismus genau so wie er war, von den Menschen gewollt war.
      Auch in Huxleys Weltstaat sind die Massen begeistert, sie lieben die Freizeitkultur, den Konsum, den libertären Sex. Sie wollen nicht nachdenken und sind eher verstört, wenn das Unheil in ihrer heilen Welt (oder was sie dafür halten) Einzug nimmt. Auch in Orwells Dystopie ist Smith ein Außenseiter der sich gegen die ganze Welt stellt, weil er das System durchschaut hat.

      Like

      1. Guten Tag Herr Horwatitsch

        *Ich erinnere mich noch an die aufhellende Lektüre „Massenpsychologie des Faschismus“ von Wilhelm Reich. Dort hat Reich den Faschismus als ein Problem der Massen interpretiert und nicht der Verantwortlichkeit einer Einzelperson typisiert.“

        Der Einzelne muss soggesagt dem Rassenhass beipflichten.

        „Um die breite Masse zu manipulieren und für sich zu gewinnen bediente sich der Nationalsozialismus revolutionärer Phrasen und Polarisierung. Letztendlich kommt Wilhelm Reich zu dem Schluss, dass der Faschismus genau so wie er war, „von den Menschen gewollt war“.

        Nicht von allen.

        Auch in Huxleys Weltstaat sind die Massen begeistert, sie lieben die Freizeitkultur, den Konsum, den libertären Sex. Sie wollen nicht nachdenken und sind eher verstört, wenn das Unheil in ihrer heilen Welt (oder was sie dafür halten) Einzug nimmt.

        Wichtig ist, sich selbst in die Karten zu schauen.

        Ein jeder ist für seine Weltanschauung, für sein Tun und lassen, vor sich selbst verantwortlich.

        Auch in Orwells Dystopie ist Smith ein Außenseiter der sich gegen die ganze Welt stellt, weil er das System durchschaut hat.

        Eine Dystopie ist eine meist in der Zukunft spielende Erzählung, in der eine erschreckende oder nicht wünschenswerte Gesellschaftsordnung dargestellt wird. Deshalb wird eine derartige Fiktion auch Antiutopie, selten auch Kakotopie oder Mätopie genannt. Eine fiktionale, in der Zukunft spielende Erzählung o. Ä. mit negativem Ausgang.

        Ein System ist eine Gruppe interagierender oder miteinander verbundener Elemente, die nach einem Satz von Regeln agieren, um ein einheitliches Ganzes zu bilden. Ein Prinzip, nach dem etwas gegliedert, geordnet wird.

        Wir sind in der Welt. Auf den Grundsatz von Smith, mit seiner These, kann ich nicht antworten; indem er sich gegen die ganze Welt stellt, weil er irgendwas durchschaut haben soll.

        Zitat Wilhelm Reich: „Liebe, Arbeit und Wissen sind die Quellen unseres Daseins. Sie sollen es auch regieren.“

        Der Liebe ist die Rede voll. Jeder macht seine Arbeit so gut er kann. Das Wissen reiht sich an Wissen. Ich weiss mir nicht, aus welcher Quelle das Dasein ursprünglich stammt. Die Gesetze der Seele sind so alt wie der Mensch. Vernunft und Gefühl müssen zusammenarbeiten. Wem man sich unterstellen will, das muss jeder selbst entscheiden.

        Geist und Seele sind in uns, nicht da draussen.
        Die Masse wie das Man sind beide ohne Gesicht.

        Freundliche Grüße
        Hans Gamma

        Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Über ZeitenGeist

Einen guten Inhalt, als Impuls und Inspiration zum Weiterdenken, neu erdenken, Möglichkeiten sortieren und Utopien zulassen. Es gilt immer die Devise „sowohl als auch“ und natürlich der demokratische Blickwinkel in dem wir, mit verschiedenen Meinungen, Sichtweisen, Wahrheiten können müssen, sonst dürfen wir uns von der Demokratie, Meinungsfreiheit und Vielfalt verabschieden. Gerne wollen wir auch mit den Beiträgen aus Diskussionen veranlassen und zum Debattieren anregen.
Freiheitsliebend und lebensbejahend ist es… „Über ZeitenGeist“

Newsletter

%d Bloggern gefällt das: