Von Bernhard Horwatitsch – Kultur – Gesellschaft – Bewusstsein

Affektenlehre
Das Wort Affekt wird heute fast ausschließlich im medizinischen Jargon verwendet. Unter Affektivität versteht man eine Sphäre von Phänomenen, die auf unser subjektives Empfinden, unsere Stimmung, unsere Physiologie einen Einfluss haben. Diese Affektivität wird vom vegetativen Nervensystem gesteuert mit neuroaktiven Botenstoffen und Hormonen. Wir benutzen heute eher das Wort Emotion und verstehen darunter allgemein ein Gefühl, eine Stimmung, eine Gemütsregung, eine charakterliche Ausprägung. Historisch spannen wir den Bogen von der Viersäftelehre des Hippokrates (cholerisch, sanguinisch, phlegmatisch, melancholisch) bis zur modernen Lehre der Big Five, einer eher schwankenden Skala die zwischen Vorsicht und Neugier, nachlässig und organisiert, zurückhaltend und gesellig, verträglich und streitbar, selbstsicher und verletzlich angesiedelt ist und lediglich tendenziell den Charakter eines Menschen definiert.
Die barocke Seelen-Lehre weicht von der modernen Psychologie darin ab, dass Affekte (afficere, ergriffen sein) als von außen erwirkte Zustände gesehen wurden. Außerdem sind sie im Gegensatz zu den Emotionen ungemischt. Man dachte in diesen Jahrhunderten in binären Ordnungssystemen (Diesseits versus Jenseits, Vergänglichkeit versus Ewigkeit, Körper versus Geist etc.) und ordnete auf die gleiche Weise auch die Affekte in binären Anordnungen. Es gab vier Hauptaffekte. Lust versus Schmerz und Furcht versus Begierde. So gab es je zwei begehrende Affekt mit Lust und Begierde und dagegen die fliehenden Affekte Schmerz und Furcht. Auch hier ist die binäre Struktur von Anziehung und Abstoßung sichtbar. Die Unteraffekte wie Zorn, Wut, Neid oder Mut wurden als hohe und niedere Affekte geordnet, ähnlich wie man auch die Kunst in eine hohe und niedere Form ordnete. So war der Zorn ein hoher Affekt, den die Fürsten für sich empfanden. Dagegen war die Wut ein niederer Affekt, den wiederum die Bauern empfanden. Daher konnte es keinen zornigen Bauern geben. Denn der Zorn ist ein beherrschtes Gefühl. Die Wut dagegen eine unbeherrschte nicht kontrollierte Gefühlsregung. So sagte Papst Gregor der Große (540 bis 604, einer der vier großen Kirchenväter), dass die Vernunft sich mit größerer Wucht entfalten könne, wenn der Zorn ihr dienstbar zur Hand gehe. Bis heute kennen wir diese Differenz, wenn jemand vor Wut kocht, seiner Wut freien Lauf lässt, wirkt das auf uns oft sinnlos und zerstörerisch. Dagegen sind zielgerichtete Aktionen der Wut (Wutrede) eher dem Zorn geschuldet und können bei uns affirmative Gefühle evozieren.
Die Beherrschung der Affekte war daher das Leitideal barocker Psychologie und die Grundlage des Neustoizismus dieser Zeit. Sich am antiken Modell der alten Stoa orientierend musste man allerdings das Christentum in eine heidnische Philosophie montieren. Ideal der antiken Stoa waren Ataraxie (Unerschütterlichkeit), Apathie (Leidenschaftslosigkeit), Fatum (determinierter Kosmos) und Logos (Vernunft).
Das Hauptproblem dabei war der Begriff des Fatums. Schon Zenon (Begründer der Stoa, 300 vor Christus) dachte sich den Kosmos determiniert und auch der einflussreichste Stoiker, der römische Gelehrte Seneca (1 bis 65 nach Christus) sah die Hauptaufgabe der Philosophie darin, uns gegen die Unerbittlichkeit des Schicksals unempfindlich (Ataraxie) zu machen. Dieses antike Weltbild widersprach der christlichen Doktrin der Willensfreiheit (Augustinus), wo sich der Mensch im Diesseits bewähren muss, um im Jenseits erlöst werden zu können. Dazu müssen wir frei handeln können.
Justus Lipsius (1547 bis 1606) war der Hauptvertreter des Neustoizismus im Barock. Er wandte einen genialen Trick an um dieses Problem zu lösen. Gott, so Lipsius, stünde über den Naturgesetzen, sei gegenüber seiner eigenen Schöpfung frei. Gott ist dem Fatum nicht unterworfen. Er ist ja allmächtig. So ist der Mensch nicht seinem Schicksal unterworfen, sondern hat durch Gottes Willen einen freien Willen, partizipiert sozusagen an der göttlichen Freiheit.
»[…] so bleibe ich steiff bey meiner meinung / nemlich / das eigentlich ein anders die Versehung / ein anders das Fatum sey. Dann ich durch die Versehung nichts anders verstehe / als das sie sey / eine macht vnd gewalt in GOtt / dardurch er alles sihet / weis / vnd regieret.
Vnd ich meine eine macht / die da allgemein / vnzerteilet / gantz vnd vnzerstückt ist. Das Fatum aber tritt ein wenig neher zu den dingen selbst ab / vnd wird in einem jedern dinge sonderlich betrachtet. Das es also nichts anders / als eine austheilung vnd auslegung der allgemeinen Versehung ist / die da vnterschiedlich vnnd stückweis geschicht. Derhalben / ist die Versehung in Gott / vnd wird jhm alleine zugeeignet: Das Fatum aber ist in den Dingen / vnd wird denselbigen zugeschrieben.«

(Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit, S. 57v)
Affekt (bzw. griech.: pathos) lässt sich am besten als Fremdbestimmtheit der Seele übersetzen. Die stoische Ethik (Sitten-, Tugendlehre) zielte darauf ab, dass sich die Menschen gegen diese Fremdbestimmtheit wehren, indem die Affekte durch die Vernunft kontrolliert werden, da sie dem Menschen aufgezwungen werden (Tugend vs. Laster).
Auf dem alten Titelkupfer von Justus Georg Schottel (1612-1676) Ethica, sieht man einen von einem Hang herabstürzenden Wagen der von zwei Ziegen gezogen wird, welche die blinden Affekte symbolisieren. Diesen Wagen (Affekte) können Verstand und Wille nicht kontrollieren. Dagegen sieht man am unteren linken Bildrand eine Frau, die ruhig einen Wagen mit zwei Löwen am Zügel fährt. Diese beiden Löwen symbolisieren den Verstand und den Willen, die kontrolliert werden können. Ein Obelisk im Zentrum des Bildes symbolisiert die Ewigkeit und Beständigkeit allen Seins, bestehend aus der Tugend die Affekte kontrollieren zu können. Die Subscriptio (Ausdeutung des Bildes im Sinne barocker Emblematik) lautet im Original:
EIn schön Weibesbild (andeutend die Vernunft) fähret sanft und wol auf einem Wagen / welcher von zweyen gezähmten Löwen gezogen wird / […]: Der eine Löwe bedeutet der Verstand / der andere den Willen / nemlich das Gemüht des Menschen / welches bestehet im Verstande und Willen zusammen: anzudeuten / wan von der Vernunft unser Gemüht recht geführet und regieret werden kann / daß alsdan Verstand und Wille […] sich nach Geheiß der Vernunft vereinbaren; wodurch dan die Tugend und das Gute entstehen / un auch in dem Gemein- und Privatwesen alles wol und vernünftig daher gehen kan: Auf der anderen Seite […] kömt ein Jüngling auf einem Wagen berg-unter daher gerent/ die Pferde […] haben ihre Zügel los- und enzwey gerissen […] und reissen den Wagen samt dem unvorsichtigen Fuhrmann ins Verderben: Anzudeuten / wan das menschliche Herz durch losgebrochene blinde Affecten / Begierde un Lüste dahin fähret / Verstand und Willen anzuhalten und zuzwingen weder wil noch vermag / dan fähret es gefährlich und zügellos von einer Untugend und Laster ins ander / bis es ins endliche Verderben ohne Rettung hingestürzet wird. Mitten in dem Kupfer stehet eine Piramide […] Anzudeuten / daß der jenige / welcher seinen Lebensbau auf gewissen festen Grund eingesenket und wol gegründet / auch nach der Kunst der Gottseeligkeit und Tugend denselben recht und fest eingeschlossen […] hat.
(Justus Georg Schottelius: Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenkunst. Herausgegeben von Jörg Jochen Berns. Nachdruck der Ausgabe Wolfenbüttel 1668. Bern 1980, Erklärung zum Titelkupfer)
Bei Schottel wie bei allen anderen Affekt-Theoretikern des 17. Jh. werden alle Affekte logisch sauber klassifiziert: Sie gehören entweder zur Tugend bzw. zur Vernunft oder zur Unvernunft; Zwischentöne sind nicht möglich. Dieses rationalistische System wurde erst im 18. Jahrhundert aufgegeben, insbesondere bei Lessing, wo die Distanzierung von der traditionellen Affektenlehre die Voraussetzung für das bürgerliche Trauerspiel bildete.Tragödien waren bis ins 18. Jahrhundert dem Adel vorbehalten. Aber auch die einfache Bevölkerung war an Tragödien interessiert. Daher entstand vor allem während der Aufklärung im 18. Jahrhundert die Form des bürgerlichen Trauerspiels, die erstmals auch Themen und die Interessen des Bürgertums behandelte. Dadurch wurden die strengen Vorgaben barocker Darstellungsformen aufgelöst und im Zuge der ökonomischen Emanzipation des Bürgertums und den ersten Anklängen der modernen Psychologie verinnerlichte und individualisierte sich die Vorstellung vom menschlichen Gefühlsleben. Vor allem Franz Brentanos (1838 bis 1904) Aktpsychologie schufen die Grundlage für die Phänomenologie und die moderne Psychologie von Sigmund Freud, C.G. Jung oder Adler. Brentano sah das Bewusstsein nicht mehr als eine die Welt abbildende rein rationale, mechanische Apparatur (wie zuvor noch Descartes), sondern entwickelte den Begriff der Intention als etwas innerlich Gegenständliches das sich vom realen Objekt seinshaft unterscheidet. So wurden die Affekte, die Emotion nach und nach verinnerlicht und abgespalten von der äußeren, realen Welt. Die Emotion entsteht ab da in uns, wird uns nicht mehr – wie noch im Barock – von außen aufgezwungen.
Später am Anfang des 20. Jahrhunderts spaltete sich die Psychologie in die Verhaltenspsychologie (Behaviorismus) einerseits und die Tiefenpsychologie (Freud, Jung) andererseits. Diese Spaltung hält bis heute an und hat zu großen Verwerfungen in der wissenschaftlichen Forschung geführt.
In vielen psychologischen Ratgebern vermischen die Autoren das antike Weltbild mit modernen Begriffen der Wissenschaft. Alten Wein in neue Schläuche zu gießen kann das Getränk verderben. Es ist nicht nur bloße Umettiketierung.

Bernhard Horwatitsch
Der Münchner Autor und Dozent Bernhard Horwatitsch schreibt seit vielen Jahren für deutsche und österreichische Literaturzeitschriften. Seit 2004 gibt er Kurse in „kreativem Schreiben“ und „Literaturgeschichte“ an der Münchner Volkshochschule und dem Münchner Bildungswerk. Gemeinsam mit Arwed Vogel arbeitet er seit 2008 als Dozent und Coach für das „freie Literaturprojekt“ (www.literaturprojekt.com).

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