Klaus Enser-Schlag – Bewusstsein – Gesellschaft

Schein und Wirklichkeit
Wir alle haben es. Es umgibt uns in jeder Situation, in denen wir eine für uns wichtige Entscheidung treffen und ist dem Instinkt des Tieres gleichzusetzen. Jeder von uns kennt es, doch leider ignorieren wir es oft, teils aus Bequemlichkeit, teils aus Angst: das Bauchgefühl. Manche Menschen nennen es auch die „innere Stimme“.
Wir alle sind Situationen ausgesetzt, in denen wir uns entscheiden müssen: Soll ich etwas ändern? Lasse ich es lieber bleiben? Wie fühle ich mich in der jetzigen Situation?
Das „In-sich hinein-fühlen“ ist in diesen Zeiten gar nicht mehr so einfach. Eine unablässige Flut von Bildern, Informationen und Schlagworten strömt täglich auf uns ein. Hinzu kommt ein immer schwieriger zu bewältigender Alltag. Die digitalen Medien, inklusive der sozialen Plattformen, halten viele Menschen fest im Beschlag. Unser Gehirn verarbeitet jeden Tag gewaltige Massen an Informationen, wie soll der Mensch da noch die Muße finden, auf sein Bauchgefühl oder die innere Stimme zu hören? Sie scheinen in der Hektik des Lebens verschollen oder verschüttet zu sein.
So kann der Mensch immer schwerer herausfinden, was nun Wahrheit oder nur Schein ist. Zugegeben, jeder Mensch hat über viele Dinge seine eigene Wahrheit. Mir geht es nicht anders. Was mich jedoch zunehmend beunruhigt, ist die Tatsache, dass ich verschiedene Dinge oft ganz anders wahrnehme, als sie mir dann in Schrift oder Wort präsentiert werden.
So gerate ich zunehmend in die Gefahr, meinen eigenen Wahrnehmungen nicht mehr zu trauen. Ich sehe eindeutige Bilder, welche dann ganz anders interpretiert werden. Ich höre, dass ich in einem Land lebe, dem es noch nie so gut gegangen ist wie heute. Und doch sehe ich immer mehr Obdachlose auf den Straßen, sehe die immer größer werdenden Menschenschlangen vor den Tafeln.
Ich höre in meinem Umfeld von wachsenden Ängsten der Menschen, sich z.B. abends noch auf die Straße zu begeben und lese dennoch, dass die Kriminalitätsrate in diesem Jahr erneut gefallen ist.
Ich fühle eine zunehmende Verunsicherung, mein Bauchgefühl und meine alltäglichen Eindrücke sagen mir etwas ganz anderes. Sich bewusst zu einer Entscheidung durchzuringen und sie dann auch konsequent durchzuziehen, kann heute die gesellschaftliche Ächtung, den Verlust des Arbeitsplatzes oder sogar das Zerbrechen von Ehe und Freundschaften nach sich ziehen. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, bedeutet seine Ausgrenzung für ihn eine zutiefst verletzende und traumatisierende Erfahrung. Nicht selten endet so eine Leidensgeschichte in Depression und Suizid.
Manchmal scheint es mir, dass ich in einer Welt lebe, in welcher nichts mehr so ist, wie es scheint. Doch ich erinnere mich noch gut, dass ich einst in einer Welt existiert habe, in der meine Eindrücke und der äußere Schein weitaus stimmiger waren. Doch was wird erst sein, wenn mir durch die zunehmende Verschiebung meines eigenen Empfindens und der mir präsentierten Wahrheit sogar diese Erinnerungen verschwimmen? Was, wenn selbst meiner erlebten Vergangenheit die Realität abgesprochen wird? Habe ich das alles dann nur geträumt, oder bin ich irgendwann sogar bereit, meiner Lebensgeschichte mit all ihren Erfahrungen, dem Empfinden von Glück, Liebe, Trauer und Freundschaft zu misstrauen?
Habe ich das im Endeffekt dann gar nicht wirklich erlebt und bin den falschen Idealen nach gejagt? Wenn nichts von all dem übrigbleibt, wäre ich ein verlorener Mensch, der nicht einmal mehr seine Erinnerungen behalten könnte. Mein ganzes „Mensch-sein“ wäre zerstört. Es bliebe nichts übrig als eine leere, seelenlose und willfährige Hülle, welche der Manipulation anderer hilflos ausgeliefert wäre.
Wenn selbst mein nächstes Umfeld eine andere Realität als ich selbst wahrnimmt und vehement vertritt, wird es eng.
Wie soll ich mich dann verhalten? Meine eigene Meinung und Gefühle aufgeben und mich halbherzig in die Gemeinschaft einfügen? Mich zu Aktivitäten überreden lassen, die meinen Gefühlen oder dem Gerechtigkeitsempfinden zutiefst zuwider sind? Oder sollte ich nicht doch besser in den sauren Apfel beißen und mir selbst treu bleiben? Diese Antwort kann sich jeder nur selbst geben. Ich habe mich für den sauren Apfel entschieden. Zum Glück steht in meinem Garten ein Apfelbaum, der genügend saure Früchte zu diesem Zweck bereithält. Meine Wirklichkeit besteht aus Empfindungen und Erinnerungen und ich habe mir gegenüber zuallererst die Pflicht, sie für meinen weiteren Lebensweg zu bewahren, um daraus zu lernen und mich weiter zu entwickeln.
Der französische Schriftsteller und Sozialkritiker Marcel Proust hat einmal geschrieben:“Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindung und Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben“.
In meiner momentanen Lebenssituation glaube ich allerdings, dass die mir präsentierte Wirklichkeit in der Realität oft eine ganz andere ist…

Klaus Enser-Schlag, geboren in Stuttgart,
Hörspielautor beim Schweizer Rundfunk (SRF)
Veröffentlichung von Gedichten, Kurzgeschichten,
Songtexten, Internet-Artikeln, sowie Erzählungen
in Anthologien.
Mehr zu meiner Arbeit unter:
https://www.klaus-enser-schlag.com/
und
https://de.everybodywiki.com/Klaus_Enser-Schlag

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