Von Andreas Schönemann – Bewusstsein – Gesellschaft – Kultur

Vom Verschwinden der Worte
Wir sind überrascht und fasziniert, wenn wir erfahren, dass bei archäologischen Ausgrabungen, die gut erhaltenen, Überreste der Lebensweise und Kultur unserer Vorfahren gefunden wurden. Und das ist nicht nur ein Thema für Archäologen und Historiker, sondern auch für ganz normale Menschen, wie du und ich. Neulich schrieb die Frankfurter Rundschau über Sondengeher, das sind Menschen, die mit Metalldetektoren im Boden nach Schätzen suchen. Dieses Hobby erfreut sich gerade in Pandemiezeiten zunehmender Beliebtheit. Wir haben ja unsere Häuser auf den Siedlungen unserer Vorfahren gebaut. Deshalb fangen wir an zu graben.
Graben wir überall? Nein, wir graben dort, wo uns die überlieferten Worte uns sagen, dass vor langer Zeit hier etwas gewesen ist. Dann nehmen wir uns viel Zeit, um mit großer Sorgfalt, die verborgenen Dinge zu finden. Schicht für Schicht wird das Erdreich der Vergangenheit durchsiebt und durchsucht. Wir Menschen sind also auf der Suche. Wenn wir nicht suchen, bleibt uns so vieles verborgen und geht am Ende verloren. Der große Romantiker Novalis schrieb, dass wir immerzu das Unbedingte suchen würden, aber immer nur Dinge finden. Was meinte er damit? Das Unbedingte ist offensichtlich etwas, das ohne Bedingung existiert. Ich verstehe es als etwas Absolutes, Höchstes von dem wir ahnen dass es existiert. Deshalb suchen wir danach. Der Mensch, so Novalis, besteht in der Wahrheit – gibt er die Wahrheit preis, so gibt er sich selbst preis. Wir müssen verstehen, dass wir nicht nur nach vergrabenen, verborgenen und vergessenen Dingen suchen sollten, sondern auch nach vergrabenen, vergessenen und verborgenen Gedanken und Worten. Denn in unserer Zeit, wo überwiegend Rationalität herrscht fehlt es an Geist. Was dagegen hilft, ist das Bewusstsein, dass es nicht nur in der Welt vieles zu entdecken gibt, sondern auch in guten Büchern. Ich lese seit frühester Kindheit sehr gern und viel. Weniger zum Zeitvertreib, sondern weil ich ein neugieriger Mensch bin. Viele Buchgeschenke, die ich im Laufe meines Lebens bekam, haben mir den Horizont erweitert und Herz und Augen geöffnet. An eines der ersten erinnere ich mich noch genau. Es war der 28. September 1967, mein 6. Geburtstag. Ein Duft von frisch gebrühtem Kaffe und selbst gebackenem Kuchen durchzog die Wohnung in der Bergarbeiterstadt im Erzgebirge in der ich die ersten 9 Jahre meiner Kindheit unbeschwert verbrachte. Das Buch, welches ich von meiner Urgroßmutter, einer imposanten Frau mit grauem Dutt und Perlenkette, geschenkt bekam, handelte von Tieren im Zoo, hatte schöne Illustrationen mit darunter stehenden gereimten Texten, die mir meine Mutter immer wieder vorlesen musste. Was mich aber am meisten faszinierte, war die schöne, geschwungene handschriftliche Widmung in altdeutscher Schrift. Diese ermahnte mich, den Jungen, der bald in die Schule kommen würde, recht fleißig das Lesen zu lernen. Denn nur so könne ich alsbald die, in den Büchern verborgenen, Geheimnisse entdecken, welche sich nur jenem offenbaren, der Buchstaben in Wörter und Gedanken verwandeln kann. Immer wieder musste meine Mutter mir die schöne, altertümlich anmutende Widmung vorlesen, bis ich sie auswendig konnte.

Als wir 1971 in die Großstadt zogen, kam ich an eine neue Schule. Ich wünschte, dass jedes Kind eine Schule wie diese besuchen könnte. Das Schulgebäude mit Turnhalle bestand aus drei, miteinander verbundenen Baukörpern und wurde im selben Jahr gebaut, in dem ich geboren wurde. Es beherbergte die Stadtbibliothek. Es gab im Haus also nicht nur Lehrer, Klassenräume und den Geruch nach Turnhalle, Kreide und Schweiß, sondern auch Worte, Gedanken und Freunde, die in der Bibliothek darauf warteten, von mir entdeckt zu werden. Diese Freunde hießen Jim Hawkins und Herkules, Chingachgook und Lederstrumpf und die Kinder des Kapitän Grant. Ich entdeckte die Urmenschen und die Dinosaurier, die Indianer und die Piraten und lernte quasi spielerisch, wie wunderbar vielfältig unsere Welt doch ist. Mein Weg führte mich also nach der Schule zumeist als erstes an diesen wunderbaren Ort an dem ich mich allein zwischen den Regalen voller Bücher bald wie zu Hause fühlte.
Ich war neun Jahre alt und als Schlüsselkind und guter Schüler der Herr über meine freie Zeit. Mit den Büchern erreichte mich über die Jahre so manche Flaschenpost mit Geheimnissen früherer Lebensbeherrschung.
Die Worte in den Büchern und die Worte der Lehrer und Erwachsenen waren für mich wahr und die Worte der Eltern Gesetz. Die Bücher und mein Wissensdurst führten mich später zur Philosophie. Als junger Mensch, fand ich Orientierung bei den Gedanken von Marx, Engels und Lenin. Dabei entwickelte sich Schritt für Schritt eine Art religiöser Glaube, vergleichbar mit einem streng gläubigen Katholiken. In diesem Denksystem waren viele kluge Worte, die als Antwort oder Frage zum Dogma in Büchern formuliert worden waren, verschwunden. Zensiert, standen sie im, sorgfältig verschlossenen, Giftschrank der Universitäten und waren nur den, als besonders zuverlässig geltenden, Menschen zugänglich. Mein, mit zunehmender Erfahrung, wachsender Eigensinn und meine Neugier ließen mich zweifeln, aber mein Glauben war zu stark. Erst der „Schwarze Schwan“ des gewaltlosen Zusammenbruchs der DDR führte mich schlagartig heraus aus dem, unbemerkt entstandenen, Gedanken-Gefängnis. Der Fall der Mauer und der Zusammenbruch des sozialistischen Gesellschaftssystems waren ein Schock, aber er hat mich befreit und geheilt. Heute fühle ich mich gegen jede Art von Ideologie immunisiert, egal wie modern sie sich maskiert. An Stelle des Glaubens traten eine gesunde Skepsis und die Freude am Widerspruch, womit ich den einen oder anderen Zeitgenossen auch schon mal irritiere. Was mich seit einiger Zeit umtreibt, ist das Gefühl, dass immer mehr Menschen im Informations-Tsunami der (un)-sozialen Medien ihre Orientierung verlieren und sich versuchen daraus zu befreien, indem sie sich neuen und alten Religionen und Ideologien fast sklavisch unterwerfen und sich gedanklich einmauern. Ob diese, Rettung verheißenden, Glaubenssysteme sich esoterisch, identitär, rechts, links, christlichorthodox oder islamisch maskieren, ob die neuen Götter „Q“ oder ChatGPT heißen ist dabei unerheblich. Wieder schlagen wir aufeinander ein und führen Kriege, zuerst mit Worten und dann mit Waffen, wie wir in der Ukraine sehen. Wo finden wir einen Ausweg aus dieser Situation? Ich befasse mich seit zwei Jahren sehr intensiv mit dem Studium der klassischen Philosophen von Sokrates über Seneca und Rousseau, Montaigne, Kant, Schopenhauer, Hegel, Nietzsche, Kierkegaard bis hin zu Heidegger. Und ich habe einen Verdacht. Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass alle wesentlichen Gedanken über unser menschliches Wesen und Dasein, über Tod und Leben und Sinn, bereits gedacht wurden, wir also uns eigentlich nur besinnen müssten auf das, was die Philosophie der letzten 2.500 Jahre erkannt hat Wir müssen uns wieder mit diesen Fragen auseinandersetzen: Was ist ein gutes Leben? Wie können wir ein gutes Leben erreichen? Was ist Glück? Und wie kann ein Mensch glücklich sein? Was ist eine gute Lebensform? Was ist eine Tugend? Was ist Gerechtigkeit? Was ist Freundschaft?.
Wenn wir als Menschheit nicht weiser werden, wird sich nichts zum Besseren wenden. „Weisheit“, heißt es im letzten dtv-Lexikon, „ steht für eine Lebensführung, die geistige Vervollkommnung anstrebt, zu welcher auch die Lebenserfahrung gehört.“ Mir scheint, wir geben uns lieber in die Gewalt von Algorithmen als nach Weisheit zu streben. Und weil das so ist, haben die Esoteriker Konjunktur. Ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass das Leben nicht so ist, wie man es uns beigebracht hat und es nicht so ist wie „man“ meint, dass es ist. Ich weiß, dass man es im Leben ganz anders „zu etwas bringt“, als man es uns gelehrt hat. Im Lärm des allgemeinen Geplappers verstehen wir unser eigenes Wort nicht mehr. Wir müssen verstehen, dass wir nicht nur nach vergrabenen, verborgenen und vergessenen Dingen suchen sollten, sondern auch nach vergrabenen, vergessenen und verborgenen Gedanken und Worten. Wir müssen zu „Sondengehern des Geistes“ werden.Das sind gebildete, lebenserfahrene und lebenskluge Menschen, die nach verlorenen Fragen und Antworten suchen.
In Büchern, aber auch im Gespräch. In unserer Gesellschaft geht es uns wie den Ureinwohnern Südamerikas, als sie auf die Eroberer aus Spanien trafen. Als die spanischen Eroberer im 16. und 17. Jahrhundert in die Neue Welt kamen, erkauften sie sich das Vertrauen der Eingeborenen auch mit simplen Dingen wie bunten Glasperlen. Billige Mitbringsel wurden zur Grundlage für ein fragwürdiges Tauschgeschäft, das Jahrhunderte währte und die Welt veränderte. Gold, Silber oder Zinn aus den Minen im heutigen Lateinamerika machten Europa reich, weil die Völker, die auf diesen Bodenschätzen saßen, für ihre Rohstoffe nicht angemessen bezahlt wurden. Sie wurden beraubt. Alles, was heute wirklich Substanz und Wert hat, ist verborgen unter einer Glasperlen-Schicht der Bedeutungslosigkeit. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, Apple und Instagram, Nike und Audi sind schön wie Glasperlen, aber das Wesentliche sind sie nicht. Was ist dann das Wesentliche? Wie wäre es mit Freundschaft, menschlichem Wachstum, mit Liebe und Familie? Und was ist
mit einer lebenswerten Umwelt, Städten, in denen man sich als Mensch gern aufhalten will und kann, vom friedlichen Zusammenleben ganz zu schweigen?

Der Mensch ist nicht das logische Resultat seiner Vergangenheit, sondern seine Lebensumstände stellen ihm
Fragen. Mit seinem Leben gibt er darauf eine Antwort. Er übernimmt Ver-Antwortung für sein Leben. Er muss dazu natürlich die Frage verstehen und das erfordert philosophische und literarische Bildung, aber auch das Feuer der Neugier. Und hier möchte ich zwei Menschen zusammenführen, die sich nicht kennen und doch miteinander verbunden sind. Meine Urgroßmutter und mein Enkelsohn haben sich nie kennengelernt. Ich habe vor langer Zeit entschieden, dass ich zu Geburtstagen nur noch Bücher verschenke.
Zum neunten Geburtstag meines Enkelsohns habe ich ihm ein Kinderlexikon geschenkt. Als wir bei Kaffee und Kuchen am Geburtstagstisch zusammensaßen, habe ich ihn gefragt, ob er denn eine Frage auf dem Herzen hat, die er sich schon lange stellt und auf die er gern eine Antwort hätte. Er überlegte kurz und sagte dann: „Opa, wenn Gott alles erschaffen hat, wer hat dann eigentlich Gott erschaffen?“ Als ich zu Hause war, habe ich mir wirklich viel Zeit genommen, um seine Frage in einem langen Brief zu beantworten. Zusätzlich hat er von mir, als Dank für seine kluge Frage, ein weiteres Buch geschenkt bekommen mit dem Titel: „Philosophie für Kinder“. Im Klappentext fand ich folgende, auch für uns Erwachsene bedenkenswerten Worte: „Nilpferde oder Stubenfliegen fragen sich nicht, wie alles begonnen hat. Sie fragen sich nicht, warum es so etwas wie Leben gibt, warum die Sonne scheint oder manche Menschen glücklicher sind als andere. Wir Menschen hingegen fanden es schon immer spannend, über solche Dinge nachzudenken. Deshalb gibt es dieses Buch. Du findest darin keine endgültigen Antworten. Aber es zeigt dir, wie man sich eine ganz eigene Vorstellung von der Welt machen kann. Und du wirst feststellen Denken macht Spaß – also denk dir die Welt!“


Andreas Schönemann wurde 1961 in der DDR geboren. Nach Abitur und Wehrdienst begann er ein Studium der Gesellschaftswissenschaften, welches er wegen Wegfall der Gesellschaft (Zusammenbruch des Sozialismus) abbrechen musste. Er baute sich in Bayern, später dann in Österreich eine neue Existenz auf als selbstständiger Management-Trainer. Seit 12 Jahren ist er Partner einer Personalberatung in München. Er studierte bei Dr. Gerd Achenbach, den Begründer der Philosophischen Praxis in Deutschland und praktiziert in eigener philosophischer Praxis in seinem Haus in Aldersbach (Niederbayern)
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