Thyra Thorn – Gesellschaft – Satire?!
Das Hallenbad

Herberts Leben verlief in engen Bahnen. Seine Arbeit im Rathaus beschränkte sich auf das Erstellen von Pässen, Ausweisen und Bescheinigungen für dies und das, auf eine unaufhörliche Reihe von Verwaltungsakten, ohne die das geregelte Leben jeder Art von Gemeinschaft, angefangen vom Bienenzüchterverein bis hin zum gesamten Staat, nicht möglich war. Die angemessene Würdigung seiner Arbeit wurde ihm jedoch verwehrt. Die heimsten der erste und zweite Bürgermeister ein, sprachen bei öffentlichen Reden allenfalls in leicht herablassendem Ton von ihrem „Team“, ohne das ihr persönlicher Erfolg nicht möglich gewesen wäre, ließen aber gleichzeitig keinen Zweifel daran, dass ihre Führungsqualitäten letztlich den entscheidenden Anstoss zu jeglichem Erfolg gegeben hätten.
Das Volk glaubte ihnen auch noch.
Das verbitterte Herbert am meisten.
Sahen sie denn nicht, wie fleißig und unermüdlich die Verwaltungsangestellten und Beamten an der Aufrechterhaltung des Systems arbeiteten, die Grundlage des Wohlergehens aller Bürger schufen und garantierten? Wie auf ihren Schultern die Last der Verantwortung für das reibungslose Laufen der gesamten Maschinerie ruhte, während die gewählten Herren Bürgervertreter, die weder gelernte Verwaltungsräte noch sonstwie vom Fach waren, sich über ihre Köpfe hinweg im Licht der Eitelkeit sonnten? Sich Lorbeeren an die Reverse hefteten, die ihnen nicht zukamen?
Das Volk ließ sich stattdessen von der Pracht betören, die den Rathaussaal bei öffentlichen Anlässen schmückte, lauschte ergriffen der stimmungsvollen Musik, bewunderte die kunstvoll gebundenen Blumensträuße, die die Gemeindeführung verteilte und genoß die Atmosphäre hoheitlicher Gnadengewährung, die die Honoratioren umgab und auch weiterhin umwehte, während der Glanz der Hochschätzung die Geehrten – Ehrenamtliche, erfolgreiche Sportler, aus dem Dienst scheidende Beamte – nur kurz streifte, bevor sie wieder in die Reihen der unbedeutenden Arbeitsbienen zurückflogen.
Auch auf Herbert würden zu seiner Pensionierung in zwei Jahren ein Blumenstrauß und das kurze Schlaglicht öffentlicher Ehrung warten.
Mehr nicht.
Nach getaner Arbeit ging Herbert ins örtliche Hallenbad, streifte seine korrekte Kleidung ab, zog eine weite, bis zu den Knien reichende, wild bedruckte Badehose an, duschte nicht, bevor er die Schwimmhalle betrat und landete schließlich mit einem lauten Platsch im Schwimmerbecken, obwohl das Hineinhüpfen streng verboten war. Der Bademeister, ebenfalls ermüdet von einem langen Arbeitsleben und der Erfolglosigkeit seiner Ermahnungen, verdrehte nur die Augen.
Nachdem Herbert seine Bahnen gezogen und die tägliche Schwimmstrecke bewältigt hatte, ließ er sich im Wasser treiben, breitete die Arme weit aus und sah zur blaubemalten Decke des Bades hoch. Kleine Wellen überspülten die weichen Fettwülste, die sich rund um seine Taille gebildet hatten und weiteten die Badehose zu einem grotesken Ballon. Herbert sah an sich hinunter und dachte an die Segeltörns mit seinem Vater, an den geblähten Spinnaker über ihrem schnellen Boot, das mittlerweile seit zehn Jahren auf dem Trockenen lag. Nach seiner Pensionierung würde er es wieder zu Wasser lassen, denn Freiheit gibt es nur auf See.
Das Burkiniverbot
An guten Tagen konnten Herbert und seine Amtskollegin dem Treiben ihrer Vorgesetzten überraschend amüsante Aspekte abgewinnen.
Eines Tages kam Elvira, die Frau des Bürgermeisters herangerauscht. Sie bebte vor Zorn am ganzen Körper, angefangen von den Schweinebäckchen, den wulstigen Lippen bis hin zu den ungeheuren Brüsten. Herbert gelang es, einen Blick auf ihr gewaltiges Hinterteil zu werfen. Sogar das wogte synchron im Takt des Wutausbruches.
Es ging um einen Vorfall in der Frauenbadestunde.
„Da waren eine Gruppe muslimische Weiber, die sind mit ihren dreckigen Klamotten ins Wasser gesprungen. Wo sind wir denn hier? In Belutschistan?“, fauchte Elvira.
„Wieso Belutschistan?“, konnte Herbert sich nicht verkneifen zu fragen.
„Wo ist überhaupt Belutschistan? Kann man da baden?“, fragte Herberts Kollegin, „sind die Belutschen denn Muslime?“
„Sunniten oder Schiiten?“
Elvira sah die beiden verblüfft an, fing sich aber schnell:“Die ganze Angelegenheit ist ja wohl Chefsache, ich geh zu meinem Mann.“
Der Oberbürgermeister, der sich ansonsten durch Mäßigung und Besonnenheit auszeichnete, konnte diesmal dem heftigen Gefühlssturm, der nun über ihn hereinbrach, nicht viel entgegensetzen.
„Aus hygienischen Gründen kann man das sicherlich nicht dulden“, murmelte er schwach und schlug in der bayerischen Bäderordnung nach, die unter ‚angemessener Kleidung‘, Badehose, Bikini und Badeanzug anführte, einen Ganzkörperbadeanzug aber nicht erwähnte. Daraufhin erließ er, nachdem er sich eingehend mit muslimischer Mode und der angemessenen Bezeichnung für ein Badekleid vertraut gemacht hatte, ein Burkiniverbot für das Hallenbad.
Es war das erste Verbot dieser Art in Deutschland und schlug hohe mediale Wellen. Die kleine Stadt wurde zum Mittelpunkt weltweiten Interesses.
In den sozialen Medien lobte man den tapferen Oberbürgermeister als Retter vor dem Untergang des Abendlandes und aller seiner Werte.
Auch die örtliche Presse wetterte gegen die umsichgreifende ‚Überfremdung‘; wer hierher komme, solle sich den hiesigen Geflogenheiten anpassen und anständige Kleidung tragen.1
Internationale Frauengruppen hingegen sprachen sich für das Recht auf weibliche Selbstbestimmung aus, was aber sowohl das An- als auch Ablegen bestimmter Kleidung bedeuten konnte. Denn sowohl Kopftuch, als auch Burkini müsste frau einerseits tragen, weil mann sie unterdrücke und das sei moralisch verwerflich. Andererseits trügen muslimische Frauen genau diese Kleidungsstücke, weil sie ihre kulturelle Identität betonen wollten und das wiederum sei moralisch zu befürworten.
„Da fragt man sich, was Kultur ist! Ist es nicht vielmehr die Engstirnigkeit und Borniertheit einer bestimmten Religion, die hinter dem Verbot steckt?“, ereiferte sich der zweite Bürgermeister und vertraute dem Reporter der ‚Süddeutschen‘ an, dass der Oberbürgermeister einst evangelischer Religionslehrer gewesen sei, nicht über seinen Schatten springen könne und anderen Religionen gegenüber keineswegs aufgeschlossen wäre.
Das Gemeideoberhaupt aber blieb stur. Er war sich der Unterstützung beider christlichen Konfessionen, des Schützenvereines, der böhmischen Landsmannschaft und des Jagdverbandes sicher, die allesamt ihre Gattinnen gern im Bikini sahen, zumindest die jungen.
Der zweite Bürgermeister hingegen wollte sich nicht so schnell geschlagen geben. Er zählte auf progressive Gruppen, wie die Theatergruppe, den muslimisch-deutschen Frühstückskreis, die Hip-Hop-Tanzgang und die Skaterfreunde, die ihn in der Aufhebung des Verbotes sicherlich unterstützen würden. Vergebens hoffte er auf den örtlichen Landfrauenverband, der sich nicht für eine Seite entscheiden konnte. Daher war er dem amtierenden Oberbürgermeister, was Unterstützer und potentielle Wähler betraf, zahlenmäßig unterlegen. Er konnte wettern, was er wollte, es blieb beim Burkiniverbot.
“Also erlaubt ist ein Badeanzug, der nur einen Teil des Körpers, nicht aber einer, der alles bedeckt? Teilkörperbadeanzug gegen Ganzkörperbadeanzug? Ist das nicht absurd?“, kommentierte er bitter und merkte an, wie lächerlich das Ganze doch sei.
Herbert und seine Kollegin fanden das auch, sammelten alle Zeitungsartikel, die sich mit der res absurda befassten und genossen jede Facette des medialen Schlagabtausches.
Als die Schließung des Hallenbades wegen möglicher Coronainfektionen in der Luft lag, stritten sich die Herren Bürgermeister um die Ausweisung der Teilbereiche im Bad, in denen Masken an- oder abgelegt werden müssten und die genaue Zahl der Erkrankten, ab der man generell schließen solle. Verbreitete des Oberhaupt der Gemeinde Zuversicht: es werde alles gut werden, man müsse nur zusammenhalten, „you´ll never walk alone“, etcetera, relativierte der zweite Bürgermeister dessen Aussage sofort, malte Schreckensszenarien an die Wand, die bei den Bürgern apokalyptische Assoziationen weckten.
Als die Schließung des dem Hallenbad angeschlossenen Dampfbades wegen des Ukrainekrieges und der damit verbundenen Energiekrise zur Diskussion stand, verwies der Oberbürgermeister auf die reichlichen Rücklagen der Gemeinde, auf die man zurückgreifen könne. Für Notzeiten habe man schließlich vorgesorgt und werde das gesamte Bad für die Bürger offen halten. Denn schließlich diene es der allgemeinen Gesundheit und das sei schließlich das Wichtigste.

Der zweite Bürgermeister hingegen zeichnete Horrorbilder eiskalter Wohnungen und wies auf die dringende Notwendigkeit von öffentlichen Wärmehallen hin, damit die Bürger im nahenden Winter nicht erfrören. Wie unmoralisch und verantwortungslos wäre es angesichte dieser dramatischen Energieknappheit, sich den Luxus eines Dampfbades zu gönnen! Er jedenfalls spiele im ‚Team Vorsicht‘ und das habe sich ja immer schon bewährt.
Die „Methode Söder“
Herbert und seiner Kollegin verging das Lachen. Sie litten zunehmend unter den Anfragen verwirrter Bürger, die nicht mehr wussten, was sie von dem beständigen Hin und Her halten sollten und allmählich überhaupt nichts mehr glaubten: „Was ist denn nun wahr und was nicht?“
„Auf was müssen wir uns einstellen?“
„Können die Streithanseln sich nicht endlich einigen?“
Dringliche Fragen, auf die Herbert und seine Kollegin keine Antwort wussten.
„In aller Verwirrung weiß ich nur eines: Unsere Bürgermeister spielen ‚good guy, bad guy’“, sagte Herberts Kollegin, „einer hat auf jeden Fall recht.“
„Nicht ganz“, sagte Herbert. „Der eine sitzt im Oberbürgermeisterstuhl und der andere will dahin. Der erste setzt auf väterliche Zuversicht, der zweite auf den drohenden Untergang. Rat mal, wer mehr publicity bekommt.“
„Derjenige, der vor der Katastrophe warnt.“
„Genau. Die Taktik unseres zweiten Bürgermeisters ähnelt fatal der unseres Ministerpräsidenten. Das ist die ‚Methode Söder‘. Auch unser Landesvater zeichnete zu Coronazeiten das Bild in weit düsteren Farben als die amtierenden Machthaber.“ Er schlug die Tageszeitung auf und las vor: „’Kam es weniger dramatisch, musste Söder nicht bekennen, sich geirrt zu haben, er konnte dankbar auf die günstige Entwicklung verweisen und seine Warnung als Beitrag zu derselben darstellen. Kam es doch schlimm, behielt er ebenfalls Recht. Das sicherte ihm lange gute Popuaritätswerte.‘2 Genauso macht es unser zweiter Bürgermeister.“
„Das ist also kein Zweckpessimismus, sondern gezieltes Hinarbeiten auf mediale Präsenz?“
„Wer Schlagzeilen macht, gewinnt. Das ist nunmal so. Es ist ein strukturelles Problem.“
„Aus dem es keinen Ausweg gibt und kein Ende. Die werden ewig so weiter machen“, fürchtete die Kollegin.
„Die schon, ich nicht“, sagte Herbert, „ich reiche meinen Antrag auf vorzeitige Pensionierung ein, mach mein Segelboot wieder flott und bin dann mal weg!“
Nachtrag:
Ein halbes Jahr nach Herberts Pensionierung beschloss man im Gemeinderat den Bau eines neuen Hallenbades. Zahlreiche Genehmigungen wurden eingeholt, das Bauvorhaben deutschlandweit ausgeschrieben und unzählige Verwaltungsakte bewältigt. Elvira beantragte, das Hallenbad nach ihrem Gatten zu benennen, wurde aber abschlägig beschieden. Der erste Bürgermeister sah sich einem unerwarteten Berg an Arbeit gegenüber, die er und sein schwaches Herz unmöglich würde bewältigen können und trat zurück.
Der Rohbau des Gebäudes war halb fertig, als ein Baukran umstürzte und das Dach des Bades durchschlug. Die Schuldfrage konnte nicht geklärt werden, eine Reihe von Anwälten bereitete sich auf einen langen Rechtsstreit vor. Der zweite Bürgermeister erlitt ein Burnout.
Herbert hört davon, als er nach einem abenteuerlichen Segeltörn auf der Ostsee bei Gotland vor Anker gegangen ist und mit seiner ehemaligen Kollegin telefoniert. Beide können sich einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren.
Anmerkung
1 https://www.wochenblatt.de/archiv/verbot-im-hallenbad-neutraubling-wenn-der-burkini-stoert-151459
2 „Habeck und die Methode Söder“ von Thomas Vitzthum in: Mittelbayerische Zeitung vom 8. Oktober 2022, S.4

© FOTOKERSCHI.AT / KERSCHBAUMMAYR
Thyra Thorn ist Ethnologin (M.A.), bildende Künstlerin und Autorin, seit 2016 Mitglied im deutschen Schriftstellerverband. Sie schreibt für österreichische, deutsche und schweizerische Literaturzeitschriften und Kulturjournale. Ihr neuester Roman: „Luxus?“ ist im April 2022 im PänK Verlag herausgekommen.

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