Von Bernhard Horwatitsch – Gesellschaft – Neu, anders denken
Nicht herrschen, Möglichkeiten schaffen

„Anarchie existiert, wenn es keinen Senat, kein Recht und kein Gesetz gibt. Sie ist von größerem Übel als die Tyrannei.“ So beschreibt es Johannes Lütkewager in seinem philosophischen Lexikon aus dem 17. Jahrhundert (Lexicon Philosophicum Terminorum Philosophis Usitatorum). Der Gymnasialrektor aus Stettin nannte sich – wie damals üblich – in latinisierter Form Johannes Micraelius. Diese Meinung über die Anarchie hat der Rektor allerdings bei einem Griechen abgeschrieben, von Aristoteles. Aristoteles teilte die Herrschaftsformen in drei gute und drei schlechte ein. Die Anarchie zählte zu den schlechten, so auch die Tyrannei und die Oligarchie (Herrschaft weniger). Dagegen waren die Monarchie, die Aristokratie und die Demokratie bei den guten Formen. Die Demokratie (angeblich unsere aktuelle Herrschaftsform) ist bei Aristoteles der Verfall der guten Form und die Anarchie tatsächlich der Verfall der schlechten Form und damit wäre die Tyrannei der Anarchie tatsächlich vorzuziehen, und die Monarchie der Demokratie.
Was bedeutet Anarchie? Sprachlich einfach ein Alpha Privatum (a) vor das Herrschen gesetzt bedeutet es Nicht Herrschen. Der griechische Urdichtervater Homer nannte eine Gruppe Soldaten ohne Anführer „Anarchia“. Und Soldaten ohne Anführer neigen dazu, die Waffen abzulegen, sich gemütlich niederzulassen, den Krieg einzustellen. Wo kämen wir da hin! Der alte Sponti-Spruch (Spontis waren politische Aktivisten der 1960er und 70er Jahre) „stellt euch vor es ist Krieg und keiner geht hin“, fällt mir dazu ein. In der Tat. Das wäre ein Desaster. Wir sind es gewohnt und haben es geübt über Generationen, Befehle zu empfangen. Bis heute: Egal welchen Betrieb man betritt, es gibt dort immer ein separates und etwas größeres Büro, wo der Chef sitzt, bzw. die Chefin.Das ist also ein vom Geschlecht ganz unabhängiges Hierarchiekonzept, das aber im Großen und Ganzen keinen Sinn ergibt, da es mit der Bartleby-Methode leicht auszuhebeln wäre. Hermann Melville kreierte Mitte des 19. Jahrhunderts diesen Kanzleischreiber, der durch seine Verweigerungshaltung seinen Chef beinahe in den Wahnsinn trieb. I would prefer not to (Ich möchte lieber nicht), wurde zum Synonym sanften Widerstands gegen die Arbeitsmoral des Bürgertums. Ein kleiner Angestellter kann so ein Firmenimperium zum taumeln bringen.
Abgesehen davon macht das Chef (der Chef / die Chefin) irgendwas, aber die anderen machen auch irgendwas. Nur behauptet das Chef, dass das was es macht wichtiger sei, als das was die anderen machen. Wie kommt das Chef darauf? Noch mal: eine fehlende Schraube und alles bricht auseinander (Bartleby-Methode), womit doch bewiesen wäre, dass alle wichtig sind, sogar die Reinigungsfachkraft, oder der Facility-ManagerIn, oder die Blumengießfachkraft oder KaffeekochfunktionärIn. Das Chef, heißt es dagegen, habe mehr gelernt und wisse daher mehr. Nein. Das Chef ist oft ein Idiot. Die Mehrheit der Angestellten in den Firmen dieser Welt behauptet das jedenfalls und meist liegen auch klare Beweise für diese These vor. Wenn es etwas Wichtiges tut (das Chef), dann trifft es sich meist mit anderen Chefs, die auch Idioten sind. Die Idioten ohne höheren Rang machen das auch. Das bedeutet also wenig. Chefs müssen Entscheidungen treffen und tragen daher eine hohe Verantwortung. Also wirklich. Erstens lässt sich Verantwortung ähnlich wie der Lohn verteilen, zweitens hat niemand es gezwungen, Chef zu sein. Aber in diesem Land herrscht eine geradezu fanatische Dummheit, die auf ihre gewohnten Hierarchien nicht verzichten will. Dummheit ist viel beständiger und resistenter, als die Gescheitheit, da die Gescheitheit leicht veraltet, während die Dummheit konstant sie selbst bleibt.
Man(n) behauptet auch gerne, dass Menschen eine Führung brauchen und vergleicht das mit Erziehung. Das ist geradezu aberwitzig. Eltern lieben ihre Kinder und Kinder ihre Eltern. Was man liebt umsorgt man. Meinen Chef – tut mir leid – liebe ich nicht. Und wenn so ein Chef Macht benötigt, um seine Befehle durchzusetzen, dann ist das mit der Führung auch nicht weit her. Wer nicht fähig ist, seinen Willen durch Einsicht anderen zu vermitteln, der sollte auch keine Macht bekommen. So gäbe es keinen Krieg. Denn befragt man die Soldaten, ist die Mehrheit nicht begeistert von der Idee, sich den Schädel einschlagen zu lassen, nur damit ein abstraktes Reich noch reicher wird. Wenn wir also von einer Demokratie sprechen, was meinen wir? Ein Land das sogar vor seinem Meldeamt Security-Beamte stehen hat (so z. B. am KVR in München)? Ein Land das durch eine kleine Minister-Elite scheingeführt wird, während die tatsächlich Herrschenden in ihrem abgeriegelten Compound vor dem Pöbel zittern, der sich im Mörtel der hohen Mauern festgekrallt hat. Ist das eine Demokratie? Nein. Es ist eine Chefokratie und ein Demogretchen. Aber noch einmal: Wer Hierarchien anzweifelt, bezweifelt nicht dass Menschen Führung benötigen. Wer Hierarchien anzweifelt, kritisiert die Idee, dass der der führt wichtiger sei, als der Geführte. Wenn niemand Napoleon oder Hitler gefolgt wäre? Wären sie ganz allein im kalten russischen Winter verloren gegangen und auch die Geschichtsschreibung würde sich um sie nicht scheren. Egalität fördert daher Gewaltfreiheit und ein Miteinander. Nur müssen wir es üben. Leider bestehen diese Hierarchien und wir können es nicht üben, sondern wir üben ständig das Gehorchen. Gehorchen fördert Gewalt, Frust und das Gegeneinander ankämpfen. Wer also wundert sich? Aber Anarchie bleibt ein politisches Konzept, das als einziges politisches Konzept noch nie konsequent angewendet wurde. Es gab immer nur kleine Inseln, Nischen, Biotope mit anarchistischem Versuchscharakter, umgeben von einer Welt des Befehlens, Gehorchen und Parierens. Es ist seltsam und verwundert mich, denn Führung ist ohne Zwang nicht nur leichter, sondern auch erfolgreicher. Tyrannen wussten das schon lange und haben die Massen begeistert. Das nennt man dann eine Massenbewegung. Leider dienten und dienen viele Massenbewegungen dem Eigennutzen der Tyrannen oder waren / sind einer wahnwitzigen Idee geschuldet.
„Anarchie, zu Deutsch: ohne Herrschaft, ohne Obrigkeit, ohne Staat, bezeichnet somit den von den Anarchisten erstrebten Zustand der gesellschaftlichen Ordnung, nämlich die Freiheit jedes einzelnen durch die allgemeine Freiheit. In dieser Zielsetzung, in nichts anderem, besteht die Verbundenheit aller Anarchisten untereinander, besteht die grundsätzliche Unterscheidung des Anarchismus von allen andern Gesellschaftslehren und Menschheitsbekenntnissen. (…) Die Verneinung der Macht in der gesellschaftlichen Organisation ist das maßgebliche Wesensmerkmal der Anarchie.“ So beschrieb es einst der anarchistische Dichter Erich Mühsam, den man zum Dank dafür im KZ Oranienburg ermordete.
Daher mein Plädoyer: Probiert es aus, herrscht nicht. Befehlt nicht, zwingt nicht. Schafft Möglichkeiten, Räume und Bewegungsfreiheiten. Je mehr möglich ist, desto freier sind wir, und können uns besser bewegen. Damit sind wir auch gesünder, frischer, klarer und weniger dumm.
Statt zu herrschen, schaffen wir Räume und Möglichkeiten. Fangen wir mit dem Üben an. Heute. Herrscht nur einmal heute nicht. Ein herrschfreier Tag einmal pro Woche als Anfang…

Bernhard Horwatitsch https://www.literaturprojekt.com/
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