ZeitenGeist

Magazin für Kultur, Gesellschaft und Bewusstsein


Auf der Dokumenta 15

Von Thyra Thorn und Dr. Henning Meumann

Auf der Dokumenta 15

Mag sein, dass wir als abendländische Künstlerin und Philosoph uns schon viel zu lange bequem im Ideenpool althergebrachten Kunstverständnisses gesuhlt haben. Fort also mit

aller akademisch kunsthistorischen, kunstphilosophischen Theorie. Gleich zu Beginn der Ausstellung wird uns in krakeliger Schrift klargemacht, dass „Kunst mit academischem Filosofieren“ nichts zu tun habe.

Gut, das Spiel „Akademiker versus freie, dafür aber geniale Künstler“ hatten wir schon öfters, und es war oft genug ansprechend und äußerst interessant, wenn!- ja wenn ein Interesse an künstlerischer Auseinandersetzung da war. Diesmal verläuft die Bruchlinie allerdings nicht im künstlerisch ästhetischen Bereich, sondern ganz platt und geographisch zwischen Nord und Süd, zwischen Ausbeuter und Ausgebeutetem.

Es ist eine pseudopolitische Bruchlinie.

Die prästabilierte Ausgangssituation ist folglich die, dass wir Dokumentabesucher – meist privilegierte Vertreter des „globalen Nordens“ – mit künstlerischen Darstellungen der Unterdrückungs-verhältnisse des „globalen Südens“ konfrontiert werden. Ohne Zweifel tragen wir als „Privilegierte“ eine gewisse Verantwortung für deren Leid und müssen uns daher von Anfang an selbst hinterfragen. Den Süden solidarisch unterstützend werden wir unweigerlich in eine bestimmte moralische Position geraten, vielleicht sogar in eine Art schräger Abwehrhaltung abgleiten.

All das war von vornherein klar. Wir leben schließlich im Zeitalter des Moralismus, und eine Weltkunstausstellung soll den Zeitgeist abbilden. Wie also geht die Kunst mit dem Moralismus, mit der schnellen moralischen Erregung und dem ebenso schnellen „Wegwischen“ derselben um? Welcher ästhetischer und formaler Mittel bedient sie sich?

Fridericianum

Regal mit Objekten – die Elemente wurden von den Besuchern ausgetauscht

Im Fridericianum geraten wir als erstes in eine Art Vorschule mit Maltischen, mehr oder weniger mit Objekten bestückten Regalen – vergleichbar den früher sehr angesagten Setzkästen – und allerhand Diagrammen an der Wand, auf denen Pfeile und Kreise verschiedene Schlagworte verbinden. (Schon in lange zurückliegenden Schul- und Studienzeiten blieb uns die genaue Bedeutung der vielsagenden Pfeile in diesen Diagrammen versagt, hier erleben wir eine erfrischend unbedarfte Renaissance kaschierter Unklarheit.)

Dann ein Raum, eine Art Holzwerkstatt, in der Skulpturen aus Schultischen und Stühlen auf- und wieder abgebaut werden. Das Pädagogische schwillt an, wir Besucher schrumpfen – zu was sollen wir erzogen werden?

Vielleicht zu einem neuen Kunstverständnis: „Nieder mit dem Akademismus, jeder Mensch ist ein Künstler“? Kennen wir zwar schon, aber mit Beuys hat die Sache ja zumindest Spaß gemacht. Und richtig, in einem der nächsten Räume liegt eine Art großer schwarzer Tafel auf dem Boden, allerhand Kreiden laden zum Kritzeln ein. Das Schulische bleibt uns also erhalten.1

An der Wand dahinter ein – übrigens beeindruckendes – figuratives Werk von Ethel Brooks: «RomaMoMa Manifesto for Documenta fifteen». Auf dem Zettel daneben steht, dass die Künstlerin mit Kolonialismus, Rassismus, Feminismus und anderen -Ismen – vermutlich bittere – Erfahrung gemacht habe. Das tut uns leid, und somit ist der Spaß auch schon vorbei. Die Schuldfrage wabert im Raum, wer will da noch kritzeln?

Und die Künstlerin? Sie wird zuallererst mit ihren Lebenserfahrungen vorgestellt. Ist das ihre künstlerische Reputation? Oder wird sie nicht vielmehr rüde kategorisiert und damit abgewertet?

Dokumentahalle

Weiter zur Dokumentahalle: Der Eingangsbereich ist ein langer wellblechummantelter Gang. Gemeint ist vermutlich der Hinweis auf die Slums dieser Welt. Aber ein bisschen chabi chic ist dieser Gang schon. In seiner Aufmachung erinnert er an den Freizeitpark Phantasialand nahe Köln. Wir erwarten, auf irgendwie urhaft2 singende und tanzende Einheimische/Indigene zu stoßen, – und wir werden nicht enttäuscht werden! Wir freuen uns auf wunderschöne Landschaftsaufnahmen, – auch die bekommen wir zu sehen. Die aus dem globalen Süden sind eben doch Naturmenschen, oder?

Weiterhin gibt es nette Filmplakate und kleine Pappkästchen, aus denen sich – vermutlich Kinder? – TV-Geräte zum Spielen bastelten. Für die Größeren läuft ein Splatterfilm und auf einer Skaterbahn rollen ein paar Jugendliche herum, aber nicht einfach so! „Skate for milk“ heißt die Aktion und man könne gebrauchte Skateboards spenden, die, im September nach Thailand geschickt, eine Verbindung zwischen Kassel und Nong Pho bilden, sowie eine lokale Selbsthilfeorganisation unterstützt würden. Neuanfänger auf dem Skateboard werden an der Hand genommen und hin- und hergeschoben, damit sie etwas lernen. Auch ein sportlicher Herr, schätzungsweise im Alter zwischen sechzig und siebzig bemüht sich, muss aber schnell aufgeben, weil ihm keiner hilft.

Die großenteils unreflektierte Darstellung „südlicher“ Lebenswelten lässt jedem Entwicklungshelfer und Ethnologen die Haare zu Berge stehen. Zusätzlich zu dieser politisch äußerst problematischen Darstellung haben wir auch noch ein Generationenproblem: Sind wir zu alt für solch alarmierende Unbedarftheit, oder ist dieses Spektakel vielleicht einfach nur zu pubertär?

Wie soll man das Ganze eigentlich nennen? In der Presse finden sich Vergleiche zu „einem Folklore-Festival in der Art ‘geklöppelte Weltverbesserung’“.3

Auch handele es sich hierbei nicht um Kunst. So jedenfalls will es das indonesische Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa mit seinem Slogan: „make friends – not art!“ verstanden wissen. Es gehe um „Verschwisterung und Zusammenarbeit“4.

Nongkrong: Eine Art vermeintlich unproduktives Rumhängen, Snacken, Plaudern der Besucher auf Liegen und Sitzbänken

Wieso Freunde? Wie sollen wir das verstehen?

An der Frage, was Kunst sei, scheiden sich seit jeher die Geister. Wir würden uns zumindest vorstellen, dass das, was in einem bestimmten Rahmen stattfindet, in diesem Fall die Kunstausstellung Dokumenta, Kunst ist und nach einem bestimmten Konzept zusammengestellt wurde.

Ein Konzept, dass derart unseren Zorn erregte, dass wir unseren Zweitagepass am zweiten Tag verfallen liessen. Da hat uns also etwas emotional getroffen!

Das muss uns zu denken geben!

Vielleicht ist genau diese alarmierende Unbeholfenheit, dieses kindlich Naive, das oberflächliche Plakative, der spielerische Eventcharakter der gültigste Ausdruck unserer Zeit? Ein Folkloreevent mit Skaterbahn die adäquate Darstellung einer schwankenden, unsicheren Realtität, in der Bilder weder Tiefe noch künstlerische Brillanz haben, sondern nur moralische Aufregung produzieren, an der man sich kurz aufgeilt?

Wenn Kunst den Zeitgeist, nennen wir ihn „Moralismus“, wiedergibt, dann sollten wir uns daran machen, letzteren genauer zu umschreiben und seine Elemente zu benennen: Eine schwankende, medial vermittelte, nicht genau auszumachende Realität, naive Unbedarftheit, moralische Arroganz, verordnete Emotionalität, hemmungslose Manipulation von Gefühl und Gewissen, identitäres Moment, etc.

Der Frage, wie es um unseren Zeitgeist bestellt ist, müssen wir uns stellen, ob es uns gefällt, oder nicht.

Anmerkungen:

1 Zum Thema des pädagogischen Charakters der Dokumenta im Fridericianum siehe https://www.nzz.ch/feuilleton/die-documenta-in-kassel-eine-kunstausstellung-ohne-kuenstler-ld.1688894

2 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: https://www.dwds.de/wb/dwb/urhaft

3 https://www.hessenschau.de/kultur/kommentar-was-bringt-uns-die-documenta-15-in-kassel,documenta-kommentar-100.html

4 https://www.zeit.de/2022/25/documenta-kassel-kunst-leben?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Bilderverzeichnis

Bild 1 Besuch der Ausstellung. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Gezeigten

Bild 2: Setzkastenregal. Die Elemente wurden von den Besuchern ausgetauscht

Bild 3: Skaterbahn

Bild 4: Nongkrong: Eine Art vermeintlich unproduktives Rumhängen, Snacken, Plaudern der Besucher auf Liegen und Sitzbänken

Thyra Thorn ist Ethnologin (M.A.), bildende Künstlerin  und Autorin, seit 2016 Mitglied im deutschen Schriftstellerverband. Sie schreibt für österreichische, deutsche und schweizerische Literaturzeitschriften und Kulturjournale. Ihr neuester Roman: „Luxus?“ ist im April 2022 im PänK Verlag herausgekommen.


Henning Meumann, Philosoph, schrieb 1996 seine Magisterarbeit über Gesetz und Urteilskraft bei Hannah Arendt. Er promovierte 2009 mit einer wissenschaftstheoretischen Arbeit über Inter- und Transdisziplinarität in der Kulturlandschaftsforschung. Zeitweise war er Mitstreiter eines Medienprojekts in der Provinz Sondrio/Lombardei zur Förderung der Kommunikation in strukturarmen alpinen Regionen. Derzeit lebt er polyamor in Frankfurt. Dort arbeitet er in der Assistenz und Pflege für Menschen mit Behinderung und setzt sich im Betriebsrat für die Belange der Kolleginnen und Kollegen ein. Zwar hat er einen Wohnsitz, hält sich aber lieber unter freiem Himmel als in geschlossenen Räumen auf.

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