Kontraktualismus-Theorien von Bernhard Horwatitsch / Gesellschaft – Kultur – Utopie
Im Selbstverständnis der Moderne büßten die Legitimationsressourcen Tradition, Natur und Gott zunehmend an Kraft ein. Vertragstheorien muss man zwar von den Utopien abgrenzen. Aber aus mehreren Gründen sind sie mit der Utopie stark verwandt und gehören daher dringend erwähnt. Zumal sie auch die Utopien beeinflussen und die Utopien wiederum die Vertragstheorien. Im Grunde war schon Platons Staat mehr Vertragstheorie als Utopie. Vertragstheorien sind Gedankenexperimente, mal mehr Mal weniger ex lettre. Die Grundidee einer Übereinkunft der Menschen in einer Gesellschaft war in der Stoa aufgekommen als Vorform des Naturrechts im Begriff der Civitas Humana. In der Neuzeit zerstörten die aufkommenden Wissenschaften und Entdeckungen (Kopernikus entdeckt, dass die Planeten um die Sonne kreisen, 100 Jahre später Kepler, dass sie das in Ellipsen tun, Columbus hatte Amerika entdeckt, in 50 Jahren (1628) wird William Harvey den Blutkreislauf entdecken, Buchdruck, 1590 erstes Mikroskop, hundert Jahre später entdeckt Leeuwenhoek die Bakterien usw.) alte Wissenstraditionen, das Bild von der Natur änderte sich zunehmend und die alten Schriften waren nicht mehr gültig. Vor diesem Hintergrund eröffnete sich die Frage, was der Mensch als Einzelner ist. Das Naturrecht kam auf.
Althus
Der calvinistische Rechtsgelehrte und Stadtsyndikus (Bürgermeister und Richter) von Emden Johannes Althusius lehrte Anfang des 17. Jahrhunderts, dass der Widerstand gegen ungerechte Herren nicht Aufruhr, sondern Wahrung eigener verletzter Rechte sei. Er benutzte dazu noch die alte epikureische Lehre vom Vertrag, den die Menschen freiwillig zur Gründung eines Staates eingegangen seien. Bei Epikur war von einer Aufkündigung des Vertrags noch keine Rede. Doch bei Althus wird das möglich, wenn die Obrigkeit ihre Seite des Vertrags nicht erfüllt. Dieses Widerstandsrecht war etwas grundlegend Neues. Er führte das Subsidiaritätsprinzip ein, das bis heute die Sozialethik bestimmt und ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat (zum Beispiel Schutz der Wohnung, der Ehe etc.) legitimiert. Auch bei Bedürftigkeitsfragen ist bis heute dieses Prinzip vorrangig, wie zum Beispiel im Erforderlichkeitsgrundsatz des Betreuungsrechts.
Thomas Hobbes
Karl II über den Leviathan: Ich habe noch nie ein Buch gelesen, das so viel Aufruhr, Verrat und Unfruchtbarkeit enthielt.
Mit dem englischen Frühaufklärer Thomas Hobbes und seiner berühmten Schrift „Leviathan“ tritt ein Denker auf, der geprägt ist von den Ereignissen des 30jährigen Krieges. Sein Pessimismus das der „Mensch des Menschen Wolf „(homo homini lupus) ist und frei gelassen gäbe es einen „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes). Im Naturzustand würde Anarchie, Gewalt und Gesetzlosigkeit vorrangig herrschen. Nach Hobbes ist der Mensch von Natur aus nicht für die Gesellschaft geeignet. Er ist vielmehr eine Menge dissoziierte Individuen. Soziale Ordnung begründet er auf einen faktisch egoistischen Menschen und dessen Recht auf Selbsterhaltung. Die Natur ist kein ethisch sinnvolles Ganzes mehr, es gibt keine ewige Ordnung die man vorfindet und in die man sich hineinfindet, der Mensch erfindet sie neu aus seiner menschlichen Vernunft, die auf seine Interessen (Selbsterhalt) verweist. Hobbes schwankt mal darin, es seien einige böse Menschen die den Maßvolleren Menschen den Krieg aufzwängen und darin, alle Menschen seien so. Der Mensch strebt nicht einfach höhere Ziele an, sondern immer weitere Ziele, als sie je ein anderer erreicht hat. Ehrsucht und Eitelkeit sind sein vorrangiger Zweck. Kein summum bonum (wie bei Aristoteles), sondern ein maximum bonum. Man will immer mehr haben, als andere. Das Leben ist ein Wettrennen und aufhören zu rennen hieße sterben. Hier schlägt bereits der Markt gegen die Agora durch. War der Mensch bei Aristoteles noch ein geselliges Tier, ein zoon politicon. So sucht er bei Hobbes die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen, sondern um sich kompetitiv in ihr zu messen und seinen Selbsterhalt zu fördern. Das gelingt ihm am besten, wenn er so viel Macht und Besitz aufhäuft wie nur möglich und diese Gier findet kein Ende, denn immer hat einer noch mehr.
Daher soll sich der Mensch freiwillig einer Autorität unterstellen. Nur durch Zucht und Zwang akzeptiert der Mensch einen Vertrag. Wenn alle Menschen sich einer Autorität unterstellen und damit alle Menschen vor der Autorität nichts sind, dann ist diese Generalität auch für die Autorität geltend, denn diese ist gegenüber allen Menschen gleichfalls nichts. So ein Vertrag hebelt das göttliche Allmachtsprinzip des Absolutismus aus. Eine Zwangsgewalt basierend auf Klugheitsregeln angewandt als erfahrene Vernunft. So ist Frieden ein Mittel der Selbsterhaltung, Beschränkung ebenso. Es ist ein ethisches Tauschgeschäft: Tu du mir nichts, dann tu ich dir auch nichts. Dieser Vertrag muss von einer Autorität überwacht werden und diese braucht eine Rechtssicherheit. Thomas Hobbes stellte den Grundsatz auf: auctoritas non veritas facit legem. Dieser Grundsatz spielt bis in die heutige Auffassung von Rechtssicherheit hinein (Radbruch`sche Formel). Die Autorität von Hobbes ist mehr eine Abstraktion, als ein einzelnes Individuum. Denn der Leviathan ist eine Metapher für die Unzerstörbarkeit des Staates. Dessen Macht führt zur Verbindlichkeit von Verträgen. Verträge auf Vertrauen sind unwirksam.
Jean Jacque Rousseau
Von ganz anderem Schlag war der Gesellschaftsvertrag von Rousseau. Er meinte: So wenig ein Mensch sich vertragsmäßig in die Sklaverei begeben kann, sowenig kann ein Volk sich einem Fürsten übergeben. Er spottete über die Engländer: Er glaubt frei zu sein, ist es aber nur im Moment der Wahlen; wie diese vorüber, „ist er Sklave, ist er nichts.“ Wie aber kann ein Staat geschaffen werden, worin es keinen einzigen Unfreien mehr gibt, worin der Einzelne in der Gemeinschaft nicht das Geringste vom Ur-Recht seiner Freiheit opfert?
Für Rousseau war das die Entäußerung allen Besitzes an die Gemeinschaft. Damit besitzen alle alles. Auch die Entäußerung meiner Freiheit an die Gemeinschaft heißt reziprok, dass meine Freiheit nicht aufgegeben wird, sondern zum allgemeinen Willen. So zwingt der allgemeine Wille (volonté générale) uns frei zu sein. Der Souverän hat nicht das Recht das Eigentum eines oder mehrerer Individuen anzutasten. Aber er hat jedes Recht, sich die Eigentümer aller anzueignen. Dieser Gemeinwille aller ist bei Rousseau eine Rechtswirklichkeit, eine Art physische Wahrheit. Rousseau ist damit ein Vertreter einer identitären Demokratie und nicht einer repräsentativen Demokratie. Dieser Gesellschaftsvertrag von Rousseau wurde von rechts und links gekapert. Er hat auch den Haken, dass es „Volk“ so nicht gibt. Daher liebte Rousseau eher die Kleinstaaterei. Eine Gemeinschaft mit einem allgemeinen Willen muss überschaubar sein. Der Idealstaat von Rousseau war daher subsidiär. Sich selbst versorgend nicht im Sinne eines Marktes, sondern einer antiken Agora.

Fichte
Ist des doch die Not, welche am meisten würdelos ducken lässt. Der Arme ist gar nicht imstande, den Kopf so hoch zu tragen, wie der Stolz es verlangt.(Ernst Bloch)
Johann Gottlieb Fichte wurde am 19. Mai 1762 in Rammenau in der Oberlausitz geboren. Dank der Förderung durch den lokalen Grundherrn konnte er die äußerst ärmlichen Verhältnisse seines Elternhauses hinter sich lassen, eine solide Schulausbildung durchlaufen und ein Studium aufnehmen. Er schlug sich als Erzieher und Hauslehrer durch, bis er durch die Begegnung mit Kant zur Philosophie kam. Seine Schrift „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“, 1792 anonym erschienen, wurde zunächst Kant zugeschrieben, ehe dieser den Namen des wahren Autors preisgab.
Über Nacht wurde Fichte berühmt und erhielt eine Professur in Jena. Später lehrte der Philosoph an der neugegründeten Berliner Universität und wurde ihr erster gewählter Rektor. Er starb 1814 in Berlin.
Anfänglich den Ideen der Französischen Revolution zugeneigt, entwickelte Fichte sich mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts mehr und mehr zu einer Art Praeceptor Germaniae, zu einem Vordenker der Deutschen, die er zu richtigen Deutschen erziehen wollte. In seinen „Reden an die deutsche Nation“ aus dem Jahr 1808, die nicht zuletzt unter dem Eindruck der Demütigung Preußens durch Napoleon entstanden, postuliert er eine besondere moralisch-kulturelle Sendung der Deutschen.
„Der deutsche Geist ist ein Adler, der mit Gewalt seinen gewichtigen Leib emporreißt und mit starkem und vielgeübten Flügel viel Luft unter sich bringt, um sich näher zu heben der Sonne, deren Anschauung ihn entzückt.“
Schon vorher zeigte Fichte nicht nur eine starke Neigung zu politischem Philosophieren, sondern auch zu Vorstellungen von politischer Autarkie, die mit seinen philosophischen Grundannahmen direkt zusammenhängen. Fichtes Philosophie gründet auf einem sich selbst setzenden Ich, das freilich kein empirisches, sondern ein transzendentales ist. Dieses ideale Ich „setzt“ die obersten Begriffe und Prinzipien der Vernunft, an welchen sich das Individuum theoretisch wie praktisch zu orientieren habe. Gottlieb Fichte (1762 bis 1814) unterschied fünf Hauptepochen, in denen sich die Menschheit vom Unbewussten in die Bewusstheit wandelt. Am Anfang herrscht bloßer Vernunftinstinkt auf den eine Epoche der Autorität folgt. Danach folgt eine Epoche der Gleichgültigkeit und schließlich kommt die Epoche der Vernunftwissenschaft. Die abschließende die Epoche der Vernunftkunst meint eine Logik, die Geschichte vom Vorstellungsobjekt trennt. Ziel ist eine Übereinstimmung des Vorgestellten und Gedachten mit den Gesetzen des Denkens, nicht aber mit den Gegenständen der wirklichen Welt. Geschichte wird zur Utopie, bzw. Utopie zur Geschichte.
In seiner im Jahr 1800 publizierten Schrift „Der geschlossene Handelsstaat“ – eine sozialistische Utopie avant la lettre – entwirft er die Grundzüge eines Staates, der den strikten Maßstäben der Vernunft unterworfen ist, eines Vernunftstaates, der Gesetzgeber seiner selbst ist und das bedrohliche Chaos der zeitgenössischen Gesellschaft zu bändigen vermag. Denn in dieser Gesellschaft, so Fichte,
„… entsteht ein endloser Krieg aller im handelnden Publikum gegen alle, als Krieg zwischen Käufern und Verkäufern. Und dieser Krieg wird heftiger, ungerechter und in seinen Folgen gefährlicher, je mehr die Welt sich bevölkert. Die Produktion und die Künste steigen und dadurch die in Umlauf kommende Ware an Menge und mit ihr das Bedürfnis aller sich vermehrt und vermannigfaltigt.“
Im geschlossenen Handelsstaat hingegen, dessen Regierung die eigene Bevölkerung gegen alle Einflüsse von außen abschirmt, herrschen das vernünftige Gleichmaß und eine strenge Gerechtigkeit, die jedem das Seine zuteilt. Was Fichte hier als erstrebenswerten sozialen Zustand ausmalt, ist aus heutiger Sicht eine Form der totalen Gesellschaft, die von einem bevormundenden und rundum fürsorglichen Staat in ein komfortables Zuchthaus verwandelt wird. Schon der Philosophiehistoriker Eduard Zeller urteilte:
„Ein Idealismus wie der seine ist immer despotisch. Die Bedingungen der Wirklichkeit sind für ihn nicht vorhanden.“
Arnold Gehlen (1904-1976 – der konservative Gegenspieler von Adorno – er prägte den Begriff vom Menschen als „Mängelwesen“) ging 1935 gar so weit, den Fichteschen Nationalismus der „Reden“ und den Sozialismus des „Geschlossenen Handelsstaates“ im Begriff des National-Sozialismus kurzzuschließen. Das hat Fichte ohne Zweifel nicht verdient. Aber unverkennbar ist, wie fremd uns heute eine Gedankenwelt geworden ist, die einen extremen Idealismus mit politischen Zielsetzungen verbindet und diese womöglich noch mit dem Etikett „deutsch“ versieht.
Allerdings bedient sich die identitäre Bewegung der Ideen von Rousseau und Fichte. Damit verknüpft ist auch die aktuelle Globalisierungskritik. Bedenkt man das Ausmaß unseres internationalen Handels, sind Fichtes Worte schon auch – zieht man die seiner Zeit geschuldete Deutschtümelei ab – prophetisch.
Und ich würde für heutige Zeiten zumindest den Mut empfehlen, politische Ideen zu entwickeln jenseits politischer Sachzwänge und Wirklichkeitshörigkeit. Wobei ich einkalkuliere, dass Ideen – erst einmal in der Welt – schwer zu töten sind.

John Rawls
Rawls konstruiert einen hypothetischen Urzustand in Form einer fairen und gleichen Verhandlungssituation, die die Gerechtigkeitsprinzipien legitimieren soll. In dieser rein theoretischen Situation wird der Gesellschaftsvertrag geschlossen, der anders als in früheren Vertragstheorien nicht den Eintritt in eine bestimmte Gesellschaft regelt, sondern nur bestimmte Prinzipien festlegt, nach denen Gerechtigkeit realisiert werden kann. Annahmen:
freie und vernünftige Personen, die miteinander die Grundstruktur ihrer Gesellschaft, ihre Gerechtigkeitsprinzipien festlegen wollen
Interessensharmonie: Zusammenarbeit ist wünschenswert und möglich
Interessenkonflikte: Wie werden die Früchte der Arbeit verteilt?
rationale und auf Erfüllung der eigenen Interessen bedachte Menschen, die jedoch frei von Neid sind
der Schleier des Nichtwissens
Der Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance)
Beschreibt einen Zustand der Menschen in einer fiktiven Entscheidungssituation, in dem sie zwar über die zukünftige Gesellschaftsordnung entscheiden können, aber selbst nicht wissen, an welcher Stelle dieser Ordnung sie sich später befinden werden, also unter einem „Schleier des Nichtwissens“ stehen.
Rawls geht davon aus, dass in diesem „Urzustand“ („original position“, fälschlicherweise oft als Naturzustand gedeutet) alle Menschen völlig gleich sind und deswegen keine aufeinander oder gegeneinander gerichteten Interessen haben. Ebenso werden sie aus demselben Grunde ihre Entscheidung über die Gerechtigkeitsprinzipien nicht verfälschen können und sich so für einen gerechten Gesellschaftsvertrag entscheiden.
Diese völlige Gleichheit erreicht Rawls, indem er die folgenden Faktoren des Menschen und des menschlichen Lebens als für Gerechtigkeit nicht relevant behandelt:
geistige, physische und soziale Eigenschaften wie Hautfarbe, Ethnie, Geschlecht, Religionszugehörigkeit
Stellung innerhalb der Gesellschaft, sozialer Status
materieller Besitz
geistige und physische Fähigkeiten wie Intelligenz, Kraft
besondere psychologische Neigungen wie Risikofreude, Optimismus
Vorstellung vom Guten, Details des eigenen Lebensentwurfs
Einrichtung der Gesellschaft etwa ökonomischer und politischer Art
Niveau der Gesellschaft zum Beispiel hinsichtlich Zivilisationsfortschritt und Kultur
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation
Aus dieser abstrakten Gleichheit folgt die Unparteilichkeit der Menschen, aufgrund derer sie aus einer Reihe von möglichen Gerechtigkeitsprinzipien die Rawlsschen wählen sollten. Darin ist nun keine logische Beziehung zu sehen; es handelt sich um eine in der normativen Gerechtigkeitstheorie argumentativ dargelegte Behauptung.

Bernhard Horwatitsch https://www.literaturprojekt.com/
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