Von Martin A. Völker zu „Raus aus dem Optimierungswahn“

Ich denke, also bin ich ein Hamster
Küchenerfahrung ist Lebenserfahrung. Perfektion ist auch in der Küche das, was angestrebt wird, aber selten gelingt. Oftmals schlägt Perfektion sogar in ihr Gegenteil um. In der Sahne liegt die Wahrheit. Du schlägst die Sahne, und in Gedanken ziert sie bereits den Kuchen und wird zum kulinarischen i-Tüpfelchen der erwarteten Kaffeerunde. Du willst alles richtig und noch viel besser machen. Am Ende musst du erkennen, dass die Sahne sich in Butter verwandelt hat. Das Produkt ist verdorben und mit ihm jede nachfolgende soziale Interaktion. An der Kaffeetafel wird sich alles um die fehlende Sahne drehen, egal ob ausgesprochen oder unausgesprochen. Das Timing entscheidet also über die Perfektion einer Sache, und der verpasste Zeitpunkt gleicht einem Bombeneinschlag, dessen Schockwellen sich über den Ort des Misslingens hinaus fortsetzen. Allein die Frage, wie sie oder er das Frühstücksei zubereitet haben will, kann die Welt untergehen lassen. In jedem Küchenerlebnis und in jeder Kochsendung im Fernsehen steckt mehr Weltweisheit als in der gesamten abendländischen Geschichte der Philosophie. Dass Männer nicht kochen wollen und stattdessen Philosophie betreiben, spricht Bände.

Das Beispiel mit der Sahne und die Sache mit dem Ei zeigen, dass die Perfektion ein Zeitproblem hat. Sie bedeutet eigentlich keinen Endzustand, sondern ein von vielen Sachfaktoren und Glücksumständen abhängiges Zwischendrin, weil der Endzustand des Sahneschlagens und des Eierkochens eben ein Desaster ist.
Ende schlecht, alles schlecht
Für das, was wir heute Selbstoptimierung nennen, sind das keine guten Nachrichten. Wir optimieren uns, bis wir hinter den vermeintlich schlechten Anfang unserer Bemühungen zurückgeworfen werden, bis uns die forcierte Gesundung krank macht. Das hat mit der Steigerungslogik und Steigerungssucht zu tun, mit der wir Optimierung verwechseln. Die als Steigerung falsch verstandene Optimierung strebt einem Endzustand entgegen, während ein Ergebnis, das alle zufriedenstellt, vorher erreicht wird, aber wie bei der Sahne unerkannt bleibt. Die gelungene Optimierung hat demnach mehr mit den Eigenschaften des zu optimierenden Gegenstands zu tun und weniger mit unserem Wollen. Objekteigenschaften können bis zu einer gewissen Grenze verbessert werden, hingegen ist unser Wollen grenzenlos und zerstört jedes Objekt. Wörtlich genommen ist also die Selbstoptimierung ein Widerspruch in sich, weil hier Subjekt und Objekt, der unerbittliche Formwille und die Stoffträgheit, auf vernichtende Weise vereint sind. Es sei denn, eine:r brächte das Kunststück fertig, aus einem harten Frühstücksei wieder ein weiches zu machen.
Der Selbstoptimierung mangelt es meistens an genauer Kenntnis, was erreicht werden soll, mit welchen Mitteln dies erreicht werden kann, wie überhaupt die stofflichen Voraussetzungen beschaffen sind, und wie Zustände und Prozesse optimiert werden können, ohne jeweils den desaströsen Endzustand zu erreichen. Bereits die Küchenerfahrung lehrt, dass das Höher-Schneller-Weiter das Ergebnis verdirbt und den Reinigungsaufwand vervielfacht. Bei der Selbstoptimierung ist stets zu fragen, welches Resultat erzielt werden soll, und ob dieses Resultat mit gesteigertem Siegeswillen, Verbissenheit und Schmerz herbeigeführt werden kann, oder ob nicht genau darin schon der Keim einer Depression steckt. Die Wahrheit dahinter lautet, dass wir uns bei der Selbstoptimierung selbst im Weg stehen. Wir wollen uns optimieren, weil wir es können oder uns zu diesem Können überreden, abrichten und kasteien können. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist die Selbstoptimierung eine Selbstbestrafung, und jeder Gedanke daran, uns selbst zu optimieren, muss uns verstehen lassen, warum wir uns mit härtesten Mitteln selbst bestrafen wollen. Selbstoptimierung ist oft eine Kompensationsleistung. Was haben wir wo nicht erreicht, weshalb wir anderenorts in hypermäßige Aktivität verfallen? Zur Lebenserfahrung gehört die Einsicht, dass das, was ich hier nicht erreicht habe, mir dort mit größerem Elan und größerer Strenge misslingen muss.
Blind im Ich-Tunnel
Gelöst werden kann dieses Dilemma allein dadurch, zum Ort des ersten Scheiterns zurückzukehren, sich alle Bedingnisse unter den Trümmern nochmals genau anzusehen und sich selbst nicht aus der Verantwortung für dieses Scheitern herauszunehmen. Was nützt nämlich die Selbstoptimierung, während dieses Selbst nur in einem Wir-Umfeld existiert? In der Selbstoptimierung steckt also nicht allein das krank machende Hamsterrad, sondern unsere eigene Hybris, das Ich, das kein Wir mehr kennt, das zum Problemfall aller Wir-Zusammenhänge wird.
Kann Selbstbesserung die gute Schwester der Selbstoptimierung sein? Einerseits ja, weil die Selbstbesserung das Timingproblem der Selbstoptimierung, die einen Endzustand anstrebt, nicht hat. Gut, besser, am besten: Die Besserung bezeichnet einen agilen wie dynamischen Mittelzustand. Dennoch ist die Selbstbesserung zu unbestimmt, als dass sie einen wirklichen Nutzen zeitigen könnte. Sie setzt den guten Zustand voraus, von dem wir in fast allen Fällen überzeugt sind, ihn noch gar nicht erreicht zu haben, oder der unerreichbar bleibt. Wer wird allen Ernstes von sich behaupten, sie oder er sei ein guter Mensch, der es unternimmt, ein sogar noch besserer Mensch zu werden? An dieser Stelle macht sich der auf das Ich bezogene Tunnelblick bemerkbar, der aufgrund fehlender Selbstkritik und ausgeschlossener Wir-Ergänzung als Korrektiv von außen ins Verderben führt.
Noch Hamster oder schon Mitmensch?
Wie kann der Ausstieg aus dem Hamsterrad der Selbstoptimierung gelingen? Er ist ganz einfach. Er beginnt damit, dir zu vergegenwärtigen, dass du kein Hamster, sondern ein Mensch bist. Ein fehlbarer Mensch. Es ist nicht so, dass Fehler bewusst angepeilt werden, aber sie müssen möglich sein, weil aus ihnen verbessernd gelernt werden kann. Die behauptete Fehlerlosigkeit der Selbstoptimierung ist ihr größter Fehler. Als Nicht-Hamster wird es dir möglich sein, deine Bedürfnisse und die Voraussetzungen, diese Bedürfnisse zu stillen, genau zu kennen. Deine Voraussetzungen und Möglichkeiten werden zwar begrenzt sein, dennoch verfügst du über mehr, als du dir vorstellen kannst. Wenngleich du dir generell weniger vorstellen solltest. Die Vorstellung versetzt Berge, aber sie kann nicht den geringsten Kiesel anheben. Bringe die Vorstellung und das Tun ins Gleichgewicht. Die Vorstellung entspricht dem gefährlichen Formwillen, und das Tun lässt sich auf die Stoffträgheit ein. Das eine ohne das andere wird dich leiden lassen. Dein Gleichgewicht von Vorstellung und Handlung muss indessen mit dem Gleichgewicht von Vorstellung und Handlung anderer abgestimmt sein. Ein dauerhaftes persönliches Glück inmitten unglücklicher Mitmenschen ist unmöglich. Die Selbstoptimierung lässt andere in ihrem Unglück zurück und allein, und die Missmutigen werden es niemals zulassen, dass du glücklich wirst, wenn dies überhaupt das Ziel deiner Selbstoptimierung sein sollte, und dieses Ziel erreicht werden könnte, da ja der Endzustand dem Zielanspruch widerspricht.
Um all diese Probleme zu lösen, stelle dich in die Küche. Die Küche ist der wirkliche Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Das Kochen lässt dich mit deinen Selbstoptimierungsfantasien ins Reine kommen. „Scheitern mit Genuss!“ heißt die Devise.

Martin A. Völker, geb. 1972 in Berlin und lebend in Berlin, Studium der Kulturwissenschaft und Ästhetik mit Promotion, arbeitet als Kulturmanager, Kunstfotograf (#SpiritOfStBerlin) und Schriftsteller in den Bereichen Essayistik, Kurzprosa und Lyrik, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Mehr Infos via Wikipedia.


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